Abschrift eines Berichtes über "Heimthal":

„Deutsche Pionierarbeit in Wolhynien“

von Frau P. Barth*

 in: Die evangelische Diaspora,  6. Jahrgang 1924, Seite 39 - 44, 109 - 111

 

Wenn ich von meinem geliebten Wolhynien erzählen soll, so kann ich es nicht anders tun, indem ich von meinem Vater rede, Pastor Heinrich Wasem, dessen ganzes Leben so eng mit dem Werden und Wachsen des dortigen deutschen Kolonistentums verwachsen ist, dessen ganzes Lebenswerk der Aufbau des deutschen evangelischen Lebens dort war, so daß man beides nicht voneinander trennen kann. (...)

Mein Vater, geboren im Jahre 1836, stammte aus Riga und kam im Februar 1865 zum erstenmal nach Wolhynien, geschickt vom Petersburger evangelisch-luth. Konsistorium, wo er Gehilfe des Gouvernementspastors St. werden sollte. Seine Reise führte von St. Petersburg, in dessen Nähe seine Eltern lebten, per Bahn bis Witebsk, von dort ging es (mit Pferden) in einer "Diligende", einem Ungeheuer von gedecktem Wagen, mit 6 Pferden bespannt, über Smolensk, Tschernigow, Kiew, nach Shitomir, der Gouvernementsstadt von Wolhynien.  

>>> Weiterlesen: Download 1. Teilabschnitt  (pdf - 57 KB)

 

2. Teilabschitt wortgleich in:  Wolgadeutsche Monatshefte 1924, S. 66/67 und 85/86**

Text zum Download (pdf - 65 KB)

 

Im Februar 1866 wurde ihm das erste Kind, ein Töchterchen, geboren. Eine deutsche Gutsbesitzersfrau, deren Mann ein Russe war und die sich wie eine Mutter des jungen Paares annahm, ihm auch bis an ihr Ende die treueste Freundin blieb, hatte das Paar aufgefordert, für diese Zeit auf ihr Gut, welches gleich neben der Stadt Nowograd-Wolynsk lag, zu kommen. In ihrer vierspännigen Equipage ließ sie meine Eltern aus ihrer Wildnis abholen. Drei Monate blieben sie nun in Alexandrowka. Aber so freundlich und liebenswürdig sie auch aufgenommen wurden, so fühlten beide sich doch überglücklich, als sie wieder in ihrem eigenen kleinen Heim waren. Im Sommer sollte das kleine Häuschen noch mehr Einwohner bekommen: die Eltern des Pastors kamen mit vier jüngeren Söhnen und alle fanden Platz: Großmutter, Mutter und Kind in der Stube, alle sechs männlichen Glieder auf dem Boden! Zwei Monate blieben die lieben Gäste. Der alte Vater, selbst Theologe, interessierte sich aufs lebhafteste für alles, gab, als überaus praktischer Mann, manch guten Rat, begleitete den Sohn auf dessen Amtsfahrten, versammelte überall die jungen Leute um sich und übte mit ihnen geistliche und weltliche Gesänge ein, in Begleitung seiner Geige, die er meisterhaft spielte. Nur zu schnell verging allen diese schöne Zeit, schweren Herzens trennte man sich, denn Reisen war damals ein Ereignis und ein Wagnis, das man nicht allzuoft unternahm.

Unterdessen war man aber auch im Ausbau des Gemeindelebens und Aufbau des Pastorates nicht untätig geblieben. Bereits im Herbst 1866 konnte das neue Haus in   S t a r a j a   B u d a  bezogen werden. Es war auch nur bescheiden und klein, enthielt 2 größere und 2 kleinere Zimmer, aber auch alle  Wirtschaftsbequemlichkeiten. Von allen Seiten aber kamen die Leute herbei, das neue Bauwerk anzustaunen und meinten dann wohl: „Ihr habt Euch ja ein Palais gebaut.“ Und ein Palais war es ja fast auch nach der ersten, so winzigen Wohnung. Die Kolonie wurde jetzt umbenannt und erhielt den Namen   „H e i m t h a l“ . Sie ist noch heute der Pfarrort des inzwischen mächtig groß angewachsenen Kirchspiels gleichen Namens, der bis zum Ausbruch des Krieges eine große Blütezeit erreicht hatte. Eins freilich blieb dem Ort und seiner Umgebung zeitlebens:   d i e   b o d e n l o s   s c h l e c h t e n   W e g e. Kam man von weither angefahren wurden die Wege mit einemmal so, daß man im Wagen hin- und hergeworfen wurde, oft fast im Graben lag, so wußte man; jetzt kommt Heimthal, und richtig zeigte sich dann auch schon bald über den Bäumen der Kirchturm der stattlichen Kirche.  Aber das war erst später, zu Zeiten meiner Eltern gab es dort noch keine Kirche, nur ein bescheidenes Schul- und Bethaus, im Orte selbst gab es aber schon richtige typische Kolonistenhäuser, rundum Felder, zwischen diesen aber auch immer viel Wald, auch in nächster Umgebung des Pastorates,  das übrigens schon sehr bald von einem hübschen Garten umgeben war.

Heimthal selbst hatte keine bequeme Lage, es liegt aber als Pfarrort bequem in der Mitte seines Kirchspiels. Noch heute ist es das entlegenste Kirchdorf in Wolhynien; 50 Werst von Shitomir, 50 Werst von Nowograd-Wolynsk, 15 Werst von der Chaussee, dazu die schlechten Wege, die besonders im Frühjahr und Herbst jeglichen Verkehr unmöglich machen. Durch die neue Bahnlinie ist die Bahn seit einigen Jahren vor dem Kriege leichter erreichbar, bis dahin mußte man bei Reisen in den Norden   1 4 0   W e r s t   b i s   R o w o s  (sic!)  machen.

Als meine Eltern nach Heimthal zogen, gab es weder eine Verbindung zur Post, noch Arzt und Apotheke, keinen Kaufladen, keine Post, keine Handwerker. Alles mußte aus Shitomir geholt werden. Infolgedessen stellte sich ein Uebelstand ein, der bald in eine wahre Landplage ausartete: besorgte sich der Pastor größere Vorräte an Kolonialwaren, Nähmaterialien oder andere Dinge, so kamen die Leute und „borgten“ sich alles mögliche, weil sie sonst nichts bekamen – zurückgegeben wurde nie etwas, denn Geld wollte man im Pastorat nicht nehmen und zur Stadt kamen die Leute nur in der seltensten Ausnahme. Um diesem Uebel abzuhelfen, überredeten meine Eltern einen „kleinen“ Wirt, einen kleinen Laden anzulegen, was er auch sehr gern tat, nachdem man das nötige Geld für den Anfang aufgebracht hatte. Aber lange dauerte die Freude nicht: der Mann wurde selbst sein bester Konsument, lebte bei den vielen Vorräten herrlich und in Freuden – bis nichts mehr da war und die alte Geschichte wieder losging. – Das Leben wurde auf das primitivste geführt, man lebte  weiter wie auf einer Urwaldfarm in Amerika und war doch so glücklich und zufrieden dabei, wie wohl selten in einem richtigen Palais. Ländlich anmutig war es da: das kleine, sehr bald ganz von wildem Wein umrankte Pastorat, gleich dahinter der Wald; vorn, vor den Fenstern, zu beiden Seiten der Eingangstür kleine Blumengärtlein, links die Hofeinfahrt, dahinter gleich die größeren Gärten, dann, vor der Tür ein großes Rasenrondell und dann Felder und Felder, die zur Sommerszeit mit weit über  mannshohem Korn bestanden waren. Zwischendurch führten schmale Stege zu den einzelnen Gehöften. Das allerliebste Schulhaus nicht weit, gleich hinter diesem der Friedhof, auf dem bald ein kleiner Sohn des Pastors gebettet wurde. Das Kind starb, ohne daß die Eltern von seinem gefahrvollen Zustande eine Ahnung hatten, weil kein Arzt geholt werden konnte.

Im Pfarrdorfe Heimthal selbst gestaltete sich das Leben sonst angenehm, besonders das kirchliche wurde allmählich ziemlich normal ausgebaut, trotz der häufigen Abwesenheit des Pastors, während welcher, ebenso wie in anderen Kolonien, Lesegottesdienste abgehalten wurden. Alle möglichen kleinen Veranstaltungen gaben den Leuten gemeinsames Interesse: Chorübungen, die der sehr musikalische prächtige   L e h r e r   W a l t e r   leitete, Näh- und Handarbeitsstunden, die meine Mutter übernahm, ja sogar eine kleine L e s e b i b l i o t h e k wurde eingerichtet. Noch nach Jahren, als ich als junge Frau besuchsweise nach Heimthal kam, zeigten mir die Frauen Arbeiten, besonders Stickereien, die sie unter Anleitung meiner Mutter gemacht hatten. – Die Amtstätigkeit des Pastors selbst war keine leichte. Gleich im ersten Jahr des dortigen Aufenthaltes starb Pastor St. in Shitomir, und naturgemäß mußte Pastor W. fürs Erste das ganze riesige Kirchspiel – es hatte damals noch keine Teilung stattgefunden – allein bedienen.  

Man kann sich von der damaligen riesigen Ausdehnung dieses Arbeitsfeldes kaum einen Begriff machen, und ich selbst kann auch nur annähernde Zahlen angeben. Shitomir liegt ganz im Südosten des Gouvernements; das Kirchspiel dehnte sich bis in die Nähe von  L u t z k,  ging bis an die   ö s t e r r e i c h i s c h e   G r e n z e, im Norden bis zum  M i n s k e r      G o u v e r n e m e n t, im Süden bis   P o d o l i e n;  überall mußte mit Hunderten von Werst gerechnet werden. So blieb der Pastor oft 5 – 6 Wochen von Hause weg. Auch als später Teilungen vorgenommen und die Kirchspiele kleiner wurden, verringerte sich die Arbeit kaum. Waren es zuerst die Entfernungen, die so viel Zeit in Anspruch nahmen, so späterhin die so   r a p i d e    a n w a c h s e n d e   Z a h l   d e r    d e u t s c h e n   K o l o -  n i s t e n   und somit auch der Kolonien.  Da kam es denn z.B. vor, daß, als er nach sechswöchentlicher Abwesenheit abends nach Hause zurückkehrt, seine Frau ihm weinend entgegenkommt: das Töchterchen liege schon seit zwei Wochen bewußtlos da, sie wisse nicht, was ihm fehle und sei vor Angst ganz außer sich. Tieftraurig tritt der überaus zärtliche Vater ans Bett der kleinen Kranken – da hört man Postglocken, ein Schlitten fährt vor – ein fast unerhörter Vorfall, denn die Leute selbst dürfen nach altem Recht nicht mit Glocken fahren- und der Pastor wird 80 Werst weit zu einem Sterbenden geholt, ihm das Abendmahl zu reichen!  Schnell wird ein einfaches Abendessen eingenommen, noch ein Blick auf das vielleicht sterbende Kind, und fort geht es in die dunkle Nacht hinaus. als der Vater nach drei Tagen wiederkam, bangen und zagenden Herzens, da begrüßte ihn die Freudenkunde: „Es geht besser!“ Das Töchterchen saß im Bett und streckte ihm, selbst noch blaß und elend, die Aermchen entgegen, Welche grenzenlose Freude, welch unendlicher Dank gegen Gott, der so gnadenvoll geholfen.

Durch diese langen Reisen, die nur selten in eine Stadt oder zu gebildeten Leuten führten, konnte es auch möglich sein, daß der Pastor wochenlang ganz abgeschnitten  von der Außenwelt war. Bei Beginn einer solchen Reise, oder vielmehr kurz davor, kam die Kunde vom Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, die ihn aufs höchste erschreckte. Er war begeisterter Deutscher. Schon in der Schulzeit hatte er um dieser, fast schwärmerischen Gesinnung willen den Necknahmen „der Germane“ erhalten. Unterwegs hatte er gar keine Möglichkeit, weiteres sicher zu erfahren; er hörte nur die unsinnigsten Nachrichten: die Franzosen seien über den Rhein gezogen, hätten die Deutschen in einer großen Schlacht besiegt und stünden nun vor Berlin. Tieftraurig, ein geschlagener Mann, kehrte er von dieser Fahrt zurück, so daß seine Frau glaubte, er  sei krank, bis er aufstöhnend sagte: „Das arme, arme Deutschland!“ Und so konnte sie ihm genau das Gegenteil verkünden, wenn ich nicht irre, auch schon die Kapitulation von Sedan, die Gefangennahme Napoleons. Wie berauscht war er von diesen Erfolgen des heißgeliebten Volkes, wie verfolgte er nun mit Leidenschaft die weiteren Erfolge. Noch bis zuletzt verwahrte er die Kriegszeitschriften aus jenen beiden Jahren und begeisterte sich stets wieder daran. Wie oft habe ich Gott in diesen letzten Jahren gedankt, daß ihm – er starb 1911 – die Schmach Deutschlands erspart geblieben ist.

In der Erklärung zur vierten Bitte nennt Luther auch „getreue Nachbarn, fromm Gesinde“. Beides wurde meinen Eltern in Heimthal in reichem Maße zuteil, und sie haben dies auch immer als ein besonderes Gnadengeschenk angesehen. Da war zunächst der liebe feine  Lehrer Walter, ein aufrichtiger, wirklich frommer Christ. Er und der Lehrer Seidel in Annette unterschieden sich auf das vorteilhafteste von den übrigen Kolonistenlehrern, die damals größtenteils auf der denkbar niedrigsten Stufe standen. Von diesem traurigen Kapitel im wolhynischen Kolonistenleben spreche ich ein anderes Mal. Sie waren ja alle pekuniär so schlecht gestellt, daß man schlechterdings auch gar keine Anforderungen an sie stellen konnte. Mit dem Lehrer Seidel in Anette hatten sich meine Eltern innig befreundet, ihn auch gebeten, Patenstelle beim ältesten Kinde zu übernehmen; er war ein sehr kluger,  frommer und dabei ein überaus bescheidener Mann. Nun hatten meine Eltern die Freude, in Heimthal ebenfalls einen Lehrer vorzufinden, der ihnen ein treuer Nachbar, dem Pastor eine gute Hilfe wurde. Mit ihm und seiner Frau lebte man sich bald gut ein, ebenso mit einigen Wirten, von denen mir einige Namen im Gedächtnis geblieben sind, wie Bergsträßer, Garbe, Ortlieb, die in Heimthal selbst lebten. Aber als „Nachbarn“ rechnet man in Rußland auf dem Lande nicht nur solche Leute, mit denen man am gleichen Ort lebt, nein, da sind die Grenzen weiter gesteckt; man fährt schon gerne 40-50 Werst, um einen „Nachbarn“ zu besuchen. Da lebten z.B. in Rohrbach drei Geschwister, die meinen Eltern mehr boten, in mancher Hinsicht, und wo sie stets aufs freundlichste aufgenommen wurden. Der Vater war Arzt in Dresden gewesen; ich erinnere mich aber nicht, aus welchem Grunde sie ausgewandert waren, drei Schwestern und ein Bruder. Letzterer war Hauslehrer  in einer feinen russischen Gutsbesitzersfamilie, zwei Schwestern heirateten, doch verwitwete die eine bald und lebte nun wieder mit ihrer Schwester, Tante Jettchen, wie sie allgemein genannt wurde, zusammen, und beide bewirtschafteten ein Kolonistenanwesen. Meinen Eltern waren sie aufs wärmste zugetan und zeigten noch in späteren Jahren, fast wie Reliquien, Dinge, die jene bei ihren Besuchen in Gebrauch gehabt hatten. In besonders guter Erinnerung blieb meinen Eltern auch immer ein damals noch junger Wirt, Funk, ein Mann von guter alter Art, von Anfang an Kirchenältester, der es immer treu und ehrlich meinte und der manchen guten Rat gab. Ja so könnten noch manche Namen genannt werden, die mit jener ersten Zeit in Wolhynien eng verbunden sind.

Was nun  die Dienstboten anbetrifft, so hatten meine Eltern auch mit ihnen Glück. Schon gleich ihr erstes Mädchen, Pauline, von der ich bereits erzählte, war tüchtig und treu, ebenso die folgende. Aber das Glanzstück war der Knecht Johann, ein junger Bursche, direkt aus Deutschland eingewandert. Meine Eltern, beides Stadtkinder, verstanden nichts von der Landwirtschaft und wären trotz guter Ratschläge der getreuen Nachbarn  verloren gewesen ohne Johann. Dieser aber nahm sich der Wirtschaft mit einer Liebe und Sachkenntnis an, als wäre sie seine eigene, so daß er in kürzester Zeit alles in schönster Ordnung hatte und die Pastoratsfelder bald die besten in der Kolonie waren. Aber nicht nur der Außenwirtschaft nahm er sich so umsichtig an; er kümmerte sich auch um vieles im Hause, legte überall mit Hand an, ließ den beiden Mägden nichts hingehen, und als einmal in der Nacht Feuer ausbrach, traf er mit solcher Umsicht alle Rettungsmaßnahmen, daß die Hausbewohner ganz allein das Feuer, welches sich schon auszubreiten anfing - es war in der Küche entstanden - bewältigen konnten.  Johann fiel durch seine Tüchtigkeit allen auf, und - ein fast unerhörter Fall - die Wirte wünschten sich ihn als Schwiegersohn. Den Töchtern aber gefiel der durch seine stattliche Erscheinung. Da er aber noch nicht seine Militärjahre abgedient hatte, fuhr er nach Deutschland zurück, sich zu stellen und blieb drei Jahre weg. Ganz zu seinem Nachteil verändert kehrte er nach dieser Zeit nach Heimthal zurück; das Kasernenleben hatte ihn gründlich verdorben; er hatte trinken, spielen und noch manches andere gelernt. Nichtsdestoweniger gab ihm ein Wirt seine einzige Tochter zur Frau, und nach dem Tode des Schwiegervaters fiel ihm der Hof zu.  Auch er hatte eine einzige Tochter, die einen braven tüchtigen Mann heiratete,  der aber bald von beiden nicht mehr gemocht wurde. Und da geschah das Gräßliche: der nun schon alte, ehemalige Johann, der Knecht, noch immer eine stattliche und mit seinem langen schneeweißen Bart sehr ehrwürdig aussehende Persönlichkeit, überredete seinen ältesten, 16jährigen Enkel, den eigenen Vater zu erschießen. Auch die Mutter soll darum gewußt haben. Die grausige Tat gelang, Großvater und Enkel wurden gleich gefangen genommen, leugneten erst hartnäckig, schließlich bekannte der Junge sich schuldig; der alte blieb beim Beteuern seiner Unschuld. Noch bei Ausbruch des Weltkrieges war das Urteil nicht gesprochen; sie befanden sich im Gefängnis in Shitomir, ließen um Bücher bitten, die man ihnen erst nach strengster Zensur schicken durfte. Bald verließ ich Shitomir und weiß nicht genau, was mit ihnen geschah. Der Junge soll sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet haben und daraufhin freigekommen, der Alte aber gestorben sein.

Wie ich schon erwähnte, war Pastor St. in Shitomir im Jahre 1867 gestorben, und mein Vater mußte nun das ganze Kirchspiel bedienen, da er noch immer Pfarr-Vikar und Heimthal noch nicht als selbständiges Kirchspiel abgeteilt war. Wiederholt war er von dem Kirchenrat in Shitomir gebeten worden, ständiger Pastor dort zu werden, aber dazu konnte er sich nicht entschließen, denn er und auch seine Frau fühlten sich sehr glücklich in ihrem geliebten Heimthal; der Gedanke, es zu verlassen, erfüllte sie mit Schrecken. Da erschienen im Jahre 1869 alle vier Reichsräte aus Shitomir in H., um einen letzten Angriff zu machen, diesmal auf die Pastorin. Als sie das kleine Häuschen, von außen ganz mit Grün bewachsen, von innen, trotz aller Einfachheit, wie ein Schmuckkästchen, sahen, da sagten sie einstimmig: „Ja, jetzt begreifen wir, warum Sie nicht von hier weg wollen.  So schön können wir es Ihnen in Shitomir nicht bieten.“ (Leider nur allzu wahr!). Trotzdem entschlossen sich meine Eltern doch zu dem Umzuge,  weil die ganze Amtstätigkeit von Heimthal aus zu schwierig war, auch kamen noch einige andere Gründe dazu. Im Sommer 1869 wurde ihnen in H. ein Töchterchen geboren; noch einmal hatten sie liebe Gäste aus der Heimat: Mutter und Schwester der Pastorin waren aus Werro in Livland gekommen.

Und dann kam das Scheiden, das ihnen so bitter schwer fiel.

________________________________________________________

* "Frau P(astorin). Barth  = Marie Natalie Ernestine Barth geb. Wasem (23.2.1866 – 1938), Ehefrau von Pastor Johannes Barth (1862 – 1916)

** Text gemeinfrei gem. § 64 UrhG (Irrtum der Abschrift vorbehalten); Fotos gemeinfrei gem. § 66 UrhG

____________________________________________________________________

letzte Änderung: 9.6.2017