Friedrich Moritz Gehre (1852 – 1918)*

„Unsere deutschen Stammesgenossen in Galizien und der Bukowina“

Abschrift aus der 4. Beilage zum Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger,

Ausgabe vom 14. September 1884

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Während in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien die Deutschen von den Tschechen durch eine ziemlich scharfe Sprachgrenze geschieden werden, während Deutsche und Italiener in Südtirol, Deutsche und Slovenen in Kärnten und Steiermark ebenfalls ziemlich scharf von einander abgegrenzte Gebiete bewohnen und während die größeren und kleineren deutschen Sprachinseln im tschechischen, slovenischen und italienischen Sprachgebiete bis in die letzten Jahrzehnte herauf sich ziemlich rein von fremder Beimischung erhalten haben, zeigt sich das Deutschtum in Galizien arg zersplittert, ohne engeren Zusammenhang und fast ganz ohne Fühlung mit den Stammesgenossen in den übrigen cisleithauischen Kronländern.

Die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, drei Millionen an der Zahl, haben alle Ursache, sich über den Uebermuth, die Unduldsamkeit und die Expansionsgefühle der Tschechen zu beklagen; die 50.000 Deutschen im Küstenland und in der Krain, wie auch die Deutschen in der Untersteiermark haben volles Recht, gegen die von oben gern gesehenen Slovenisierungsbestrebungen mit aller Macht anzukämpfen; fast noch schlimmer ergeht es aber den Deutschen in Galizien, seit diese Provinz in Schule, Amt und Verwaltung den Polen völlig ausgeliefert ist und namentlich seit an der „Versöhnung“ der Völker in Österreich gearbeitet wird. Nur mühsam kann sich das deutsche Element in Galizien gegen die Polen und Ruthenen aufrecht erhalten. Wenn man von den 200.000 Israeliten absieht, die bei der letzten Volkszählung am 31. Dezember 1880 das Deutsche noch als ihre Umgangssprache angaben –  500.000 Juden bezeichneten sich damals schon als Polen -, so finden sich gegenwärtig nur etwa 130.000 - 140.000 Deutsche in diesem östlichen Kronlande, die sich deutsche Sprache und Sitte noch voll und ganz bewahrt haben. Zum größten Theile sind es die Nachkommen jener Deutschen, die Josef II. vor hundert Jahren in verschiedenen Theilen der neu erworbenen polnischen Provinz ansiedelte.

Wer Galizien seit 1866 nicht mehr betreten hat, würde es heute kaum mehr erkennen. Wie die Polen auf die gesammten Verhältnisse Cisleithaniens in mehr als einer Beziehung einen unheilvollen Einfluß ausüben, so haben sie in den letzten achtzehn Jahren einen wahren Terrorismus gegen Alles entfaltet, was sich nicht dem Polentum eng anschloß. Obwohl die Polen in Galizien nur die Hälfte der Bevölkerung bilden, so haben sie doch fast alle Aemter, alle Stellen im Besitz; die drei Millionen Ruthenen, welche die Mitte und den Osten des Landes bewohnen, werden schonungslos vergewaltigt und unterdrückt. Durch allerhand unsaubere Mittel haben es die Polen so weit gebracht, daß nur noch drei Ruthenen im Wiener Reichsrath und acht im galizischen Landtage sitzen. Würden die anderen Völker mit gleichem Maße gemessen, so müßte das ganze österreichische Abgeordnetenhaus zu einer Miniaturversammlung von 22 Köpfen zusammenschrumpfen, und die Tschechen hätten beispielsweise auf fünf, die Slovenen auf einen, die Polen selbst nur auf drei Deputirte  Anspruch. Während die Polen 22 Mittelschulen haben, exisitiert für die gleiche Zahl Ruthenen  nur ein einziges Gymnasium mit ruthenischer Unterrichtssprache. Der jederzeit kaiser- und reichstreue Volksstamm der Ruthenen, der den österreichischen Staatsgedanken immer hochhielt und niemals Opposition machte, ist von der polnischen Partei in einer Weise an die Wand gedrückt worden, daß ihm jede Möglichkeit eines freien, politischen Athemzuges, jede  Bethätigung  eines nationalen Wesens fast zur Unmöglichkeit gemacht ist. In den letzten Monaten noch haben die Polen den Versucht gemacht, sich der Basilianerklöster, der einzigen geistlichen Genossenschaften der Ruthenen, zu bemächtigen und dieser Versuch scheint, trotz energischer Gegenarbeit der Ruthenen, auch geglückt zu sein. Wenn nun die Polen einem Volksstamme, der ihnen an Zahl gleichsteht, schon so mitspielen, so wird man sich denken können, wie es den Deutschen seit 1866 ergangen ist.  Die deutschen Beamten und Lehrer, die sich in Galizien wahrlich hoch verdient gemacht haben, sind sämmtlich vertrieben und durch Polen ersetzt worden. Die deutsche Sprache schrumpfte in den Gymnasien und Realschulen auf bedenkliche Weise zusammen. Bei den galizischen Regimentern hat sich an Stelle der deutschen Kommandosprache immer mehr das Polnische eingebürgert, da die Zahl der deutsch redenden Unteroffiziere rapid abnahm.  

In den größeren Städten Galiziens, namentlich in Krakau und Lemberg, konnte man sich in früherer Zeit, ohne irgend welche Kenntniß der polnischen Sprache, unschwer verständlich machen und zurechtfinden. Ein großer Theil der Bürgerschaft sprach deutsch und pflegte und hegte das Deutsche in den Schulen. Heute ist das ganz anders geworden. Der deutsche des Polnischen unkundige Reisende muß sich mit einem Dolmetscher versehen, um ohne Beschwerde vorwärts zu kommen. In den Gasthöfen giebt es nur polnische Dienerschaft und polnische Umgangssprache; auf deutsche Fragen bekommt man nicht selten eher französische, als deutsche Antworten. Die Straßennamen und öffentlichen Ankündigungen sind  selbstverständlich alle polnisch. Leider haben sich auch viele deutsche Geschäftsleute entschließen müssen, um nicht alle polnische Kundschaft zu verlieren, ihre deutschen Firmentafeln durch polnische zu ersetzen. Während die Deutschen im slovenischen Sprachgebiete über einige gute deutsche Blätter verfügen, während die 400.000 Deutschen im Banat zwanzig und mehr, allerdings meist im magyarischen Sinne geleitete deutsche Zeitungen haben, besteht in ganz Galizien nicht eine einzige deutsche Zeitung! Alle Versuche, ein deutsches Blatt zu gründen, scheiterten an dem Terrorismus der Polen, welche die Buchdruckereibesitzer, die sich entschlossen, ein deutsches Journal probeweise herauszugeben, auf’s Härteste bedrohten. So können die Deutschen Galiziens, die vollständig eingeschüchtert sind, nicht einmal ihren Leiden, ihrer Noth öffentlich Ausdruck geben.

Da alle Schulen Galiziens – mit Ausnahme der evangelischen Bildungsanstalten – entweder ruthenisch oder polnisch sind, so werden die Kinder deutscher Eltern rasch slavisiert. Auf diese Weise gehen dem Deutschtum jährlich hunderte von Gliedern verloren. Leider zeigen sich die entnationalisierten Deutschen oft noch fanatischer, als die Polen selbst; hört doch einer der polnischen Parteiführer auf den Namen Hausner!  Ja neuester Zeit werden auch die evangelischen Deutschen, die als fleißige Bauern unter großen Mühsalen ihr Volksthum bis heute bewahrt haben, mehr und mehr von dem Polonismus bedroht. Die Polen, in Verbindung mit der ultramontanen Jesuitenpartei, lassen keine Ueberredungskunst, kein Einschüchterungsmittel unversucht, um die deutschen Kolonistengemeinden in ihrer nationalen und religiösen Eigenart zu vernichten. Daß die evangelischen Deutschen, denen leider jeder Mittelpunkt fehlt, nicht schon längst im Polenthum aufgegangen sind, verdanken sie zum großen Theil dem   G u s t a v – A d o l f- V e r e i n,  der seit einem halben Jahrhundert nach Kräften für deutschevangelischen Gottesdienst und deutschen Unterricht gesorgt hat. Ob die deutschen Volksschulen der Kolonisten unter den gegenwärtigen Verhältnissen Galiziens noch lange dem Andringen des Polonismus widerstehen werden, ist noch eine offene Frage.

Wir halten es für eine Pflicht der beiden   d e u t s c h e n   S c h u l v e r e i n e   zu Wien und Berlin, sich der armen deutschen Bevölkerung in Galizien, die deutsch bleiben will und nach ihren schwachen Kräften alles thut, um sich deutsche Sprache und Kultur zu erhalten, weit mehr zu unterstützen, als es bisher geschehen ist. Heute fällt die Hülfe der Schulvereine in Galizien noch auf einen fruchtbaren Boden; überläßt man aber die deutschen  Bauern daselbst ihrem Schicksale, so könnte in zwanzig Jahren das deutsche Element unter den Polen geradeso geknickt sein, wie heutigen Tages das Deutschtum in der Zips, in den kleinen Sprachinseln des ungarischen Erzgebirges, auf dem Bakonyer Walde und in den  sette und tredici communi in Oberitalien.

Wie es den Anschein hat, wollen sich namentlich die Deutschen Österreichs in Zukunft nur noch wenig um ihre Landsleute in Galizien und der Bukowina kümmern. Geben aber die Deutsch-Österreicher ohne Noth einige Hunderttausende deutscher Stammesgenossen in den östlichsten Kronländern auf, so kann diese Preisgebung unter Umständen recht bedenkliche Folgen nach sich ziehen. Gar nicht undenkbar wäre es, daß die Deutschen Böhmens einmal sagten: „Was geben uns den die 50.000 Deutsche in Krain und im Küstenlande an? sorgen wir in erster Linie für unseren eigenen nationalen Fortbestand!“

Ganz anders als in Galizien steht es mit dem Deutschthum in der   B u k o w i n a.   Hier zählte man im Jahre 1880 bereits 108.000 Deutsche; sie bildeten als den fünften Theil der Bevölkerung des Kronlandes. In der Hauptstadt       C z e r n o w i t z   lebten allein neben 6000 Polen, 6000 Rumänen und 8000 Ruthenen  23.000 Deutsche. Die Schulen in Czernowitz sind zum größten Theile deutsch. Sowohl in den meisten Volksschulen, als auch im Gymnasium, wie auch in der Staatsgewerbeschule und in der griechisch-orientalischen Oberrealschule wird deutsch unterrichtet; nur in zwei vorstädtischen Kommunalschulen ist die Unterrichtssprache eine andere. Auch das Gymnasium in  R a d a u t z   ist deutsch. Desgleichen hat sich die Frequenz und das Ansehen der deutschen Universität in Czernowitz wesentlich gehoben.  Während in ganz Galizien auch nicht eine Ortsgruppe des Wiener Schulvereins besteht, existieren in der Bukowina deren bereits drei, die über 600 Mitglieder zählen und schon viele Tausende Gulden für den nationalen Verein aufgebracht haben.  Fort und fort bilden sich neue Gemeinden in der Bukowina, so sind auch in die Ortschaften, welche von den Csangos 1883 verlassen wurden, deutsche Bauern eingewandert. Deutsch-evangelische Pfarrgemeinden bestehen in der Bukowina bereits vier: in Jacobeny, in Illischestie, in Radautz und Czernowitz; jede dieser deutschen Muttergemeinden zerfällt wieder in mehrere Filialgemeinden; so gehören zur Gemeinde Czernowitz die Tochtergemeinden Hliboka, Unter-Stanestie, Katharinendorf und Alexanderdorf.

Die rasche Ausbreitung des deutschen Elements über die Bukowina hat viel Aehnlichkeit mit dem schnellen Anwachsen des Deutschtums im Banat, wo man 1728  etwa 5000, 1780 ungefähr 40.000, 1880 aber 400.000 Bewohner zählte, die sich als Deutsche bekannten. Wackere deutsche Männer arbeiten daran, den jungen deutschen Gemeinden in der Bukowina zu deutschem Unterricht und deutschem Gottesdienste zu verhelfen; namentlich hat der evangelische Pfarrer Fronius in Czernowitz, ein geborener Siebenbürger Sachse, in dieser Hinsicht bereits sehr segensreich gewirkt. Hoffentlich bleiben den Deutschen in der Bukowina die nationalen Kämpfe erspart, welche seit der Versöhnungspolitik in allen deutsch-slavischen Kronländern, mit einziger Ausnahme Kärntens, mit einer sich immer noch steigernden Heftigkeit geführt werden.

* Text gemeinfrei gem. § 64 UrhG; Rechtschreibung aus der Vorlage übernommen;

Irrtum der Abschrift vorbehalten