Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland und Polen

Ein kurzer Streifzug durch die Geschichte

mit besonderem Blick auf Wolhynien (bis 1939)

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1.  Das Christentum im ostslawischen Raum

Mit der Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir um das Jahr 988 soll das Christentum im russländischen Reich nach der Überlieferung seinen Anfang genommen haben.[1] Es verbreitete sich als stark national ausgerichtete Staatsreligion, dem östlichem (byzantinischem) Ritus folgend und mit slawischer Kirchensprache. Bis ins 17. Jahrhundert hinein waren allerdings im großen russischen Reich noch nicht alle alten natur-religiösen Überzeugungen und Kulte verdrängt. Noch 1613 wird berichtet, dass z.B. in Litauen in einigen Regionen Baum-, Rauch- oder Schlangen-Gottheiten verehrt wurden.[2]

Der Protestantismus hatte seinen Weg ins zaristische Herrschaftsgebiet bereits im 16. Jahrhundert über Kaufleute und Einwanderer gefunden; er kann jedoch nicht als Missionierungsgeschichte unter den ostkirchlichen orthodoxen Gläubigen beschrieben werden (Bekehrungs-versuche waren verboten), sondern blieb weitgehend auf die ausländischen Fremden beschränkt.[3] Eine maßgebliche Rolle spielte die frühe Verbreitung reformatorischen Gedankenguts in den baltischen Staaten. In Riga war bereits 1527 die erste lutherische Kirchenordnung in Kraft.[4] 1528 hatten der Großmeister und die Ritter des Deutschen Ordens die Glaubenslehre Luthers angenommen und nach Litauen gebracht.[5]  Sie verbreitete sich ab 1551 weiter im Königreich Polen-Litauen und im russischen Reich - teils durch Zuwanderung und  durch reisende Kaufleute, teils durch kriegsbedingte Gebietsveränderungen (insbesondere an den nordwestlichen Grenzen:  Estland, Lettland, Kurland, Finnland, Schweden etc.).

Während es über Jahrhunderte unversöhnliche Spannungen gab zwischen der russischen orthodoxen und dem römisch-katholischen Kirche,  hatten reformatorischen Lehren wie die von Hus, Calvin und Luther durchaus Chancen auf - wenn auch teils kritisches - Gehör bei regierenden Zaren; den Anhängern der neuen Bekenntnisse, mehrheitlich Kaufleute, Ärzte, Militärs, aber auch Kriegsgefangene aus den nordischen Ländern, wurde meist Religionsfreiheit gewährt. Zar Iwan Wassiliewitsch II erlaubte um 1575 die Errichtung einer Kirche für die deutschen lutherischen Gläubigen vor den Toren der Stadt Moskau (Nemezka Sloboda), und weitere Gemeinden entstanden unter anderem in Nishni-Nowgorod, Tula, Kasan, Belgorod, Nowo Pawlowsk, Petrowska bei Olensk, Tobolsk, Archangel, Astrachan.[6] Theophan Prokopowitsch (1681 – 1736), orthodoxer Erzbischof von Nowgorod, riet Zar Peter dem Großen, der protestantischen Kirche in Russland eine gewisse Vorrangstellung gegenüber der römisch-katholischen zu geben. Der Zar erteilte daraufhin 1717 den Auftrag für einen sehr aufwändigen Druck einer Bibel als zweisprachige Ausgabe in niederländischer und russischer Sprache.[7] Sie wurde jedoch nicht fertiggestellt und ausgeliefert, als man erkannte, dass die lutherische Fassung in der Auswahl und Reihenfolge der biblischen (alttestamentlichen) Bücher nicht der slawischen (orthodoxen) Bibel entsprach und auch inhaltlich zu der Auffassung kam, dass die lutherische Übersetzung nicht  mit der orthodoxen Lehre übereinstimmte.[8]

Die Siedlungspolitik der Zarin Katharina der Großen zog ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zehntausende deutscher Kolonisten nach Russland - überwiegend Protestanten, denen gleichfalls die freie Ausübung ihrer Religion zugesichert wurde. Sie siedelten in den Weiten des Landes überwiegend in zerstreuten Gemeinden - ohne eine verbindende Struktur und Dachorganisation. 

Im Jahr 1805 erschien in St. Petersburg eine „allgemeine liturgische Ordnung für die evangelisch-lutherischen Gemeinden im russischen Reiche“ mit Regularien für den Gottesdienst  und für Amtshandlungen wie Taufe, Trauung und Beerdigung.[9] Den Grundstein für eine landesweite staatliche Verankerung der evangelisch-lutherischen Kirche legte im Jahr 1830 Zar Nikolaus I:  er erlaubte nicht nur die Feier des 300jährigen Jubiläums der augsburgischen Konfession in allen evangelischen Kirchen des Reichs am 25. Juni, sondern ordnete auch an, dass die Feier überall in gleicher Weise gehalten werden sollte und dass künftig die Pastoren bei allen Amtshandlungen eine Amtstracht zu tragen hatten. Außerdem wurde in allen protestantischen Schulen des Landes der Kleine Katechismus Martin Luthers verteilt.[10] Mit dem Kirchengesetz von 1832 erhielten schließlich alle evangelisch-lutherischen (und auch reformierten[11]) Gemeinden eine einheitliche rechtliche Struktur und Handlungsgrundlage  - waren faktisch Teil des staatlichen (Rechts)Systems.[12] Das Gesetz vereinte im weiten russischen Reich evangelische Christen unterschiedlicher Nationalitäten: Letten, Esten, Litauer, Finnen, Schweden, Polen, Deutsche, Armenier, Russen…

2.  Brennpunkt Wolhynien

Der polnische Historiker Aleksander Kossowski  hat darauf hingewiesen, dass die geschichtliche Entwicklung des Protestantismus in Wolhynien erst verständlich wird, wenn man die regionale Situation der religiösen Kultur in dieser Epoche bedenkt. Zu berücksichtigen ist der Einfluss verschiedener Faktoren, die den konfessionellen Auseinandersetzungen in diesem Teil des Landes einen komplizierteren Charakter gaben als anderswo, denn die Ströme von Ideen und kulturellen Einflüssen aus Ost und West kreuzten sich hier: die byzantinische Orthodoxie, der römische Katholizismus und die neuen reformatorischen Lehren stießen hier aufeinander. Die Zusammenarbeit zwischen Protestanten und griechisch Orthodoxen und die besonderen gesellschaftlichen Bedingungen in diesem polnisch-ukrainisch geprägten Gebiet nahmen Einfluss auf die Entwicklung.

Daneben ist zu bedenken, dass in  Wolhynien der Großgrundbesitz, der etwa 65% des Gebietes umfasste, im Wesentlichen sechs Fürstenfamilien gehörte: Ostrogski, Zbaraski, Sanguszko, Czartoryski, Korecki und Radziwill. Daraus folgt, dass die Richtung von Glaubensfragen bestimmt wurde vom Willen der Eigentümer dieser großen Besitztümer.

 

 

 

Der wolhynische Fürst Konstantin von Ostrog (Ostrogski)  ließ 1580 das Alte Testament in slawischer Sprache veröffentlichen, 1581 folgte eine Ausgabe des Neuen Testaments.[13]  Ein Exemplar dieser Bibelübersetzung ist noch heute im Schlossmuseum Ostrog ausgestellt.

(Foto: M.Walsdorf)

 

 

Reformatorische Lehren als Oppositionsbewegung gegen die katholische Kirche erreichten auch Wolhynien etwa in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Ein Fürst aus Moskau, Andrej Michailowitsch Kurbski, verteidigte energisch die hier aus zwei Richtungen bedrohte Orthodoxie. Er unterhielt enge Verbindungen mit Fürst Ostrogski, dem Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche in der Region. Er versuchte, dessen religiöse Überzeugungen zu festigen und ihn gegen den Einfluss des Katholizismus und der häretischen protestantischen Lehren zu schützen. 

Fürst Ostrogski, der in Bezug auf den Glauben relativ gleichgültig war und sich nicht auf dogmatische Fragen verstand, war in seinem öffentlichen Auftreten unbeständig. In einem Brief an den Papst in Rom  1583 brachte er den Wunsch nach einer baldmöglichen Kirchenunion zum Ausdruck; im Gegensatz dazu nahm er 1595 Verbindung auf zu den Calvinisten während ihrer Synode in Thorn, und 1599 organisierte er einen politischen Zusammenschluss zwischen Orthodoxen und Calvinisten.

In Wolhynien existierten insgesamt 28 Gemeinden der als „Häretiker“ bewerteten Anhänger der Lehren Luthers.  Die Zentren waren in Beresko, Beresteczko, Haliczany, Hoszcza, Iwanice, Kisielin und Lachowce.  Während der ersten Jahre des 17. Jahrhunderts, insbesondere nach der Unterdrückung der protestantischen Gemeinden und Schulen in Lublin (1627) und Raków (1638), stieg in Wolhynien die Zahl der Gotteshäuser von „Arianern“  („Polnische Brüder“). Der Calvinismus hatte hier weniger Mitglieder. Die Kosakenkriege allerdings vernichteten die protestantischen Gemeinden. Die Czaplic („Polnische Brüder“) siedelten sich noch 1660 in Kisielin an. Diese Aktion hatte jedoch keine Auswirkung auf das Schicksal des Protestantismus, der sich schon stark im Rückgang befand.  Ende des 17. Jahrhunderts gab es Wolhynien so gut wie keine Protestanten mehr.[14]

Ab 1793 soll wiederum eine evangelische Gemeinde im wolhynischen Koretz bestanden haben. Sie war vermutlich gestiftet von Fürst Czartoryski für eingewanderte Handwerker und Beamte, ist allerdings nach kurzer Zeit durch ein verheerendes Feuer eingegangen[15]. 1801 ist in Shitomir durch Zar Alexander I. ein lutherischer Pastor berufen worden, der die Gläubigen in Koretz mitbediente. Aufgrund des großen Zustroms und Geburtenreichtums von deutschen Kolonisten in den folgenden Jahrzehnten - 1887 zählte man z.B. bereits um die 80 000 -  entstanden weitere Kirchspiele, die dem St. Petersburger Konsistorium, in Westwolhynien ab 1921 dem Warschauer Konsistorium unterstellt waren:[16]

1862 Rozyszcze  -  1863 Heimtal   -   1888 Tuczyn   -    1889 Nowograd Wolynsk

1891 Wladimir Wolynsk   -    1896 Emiltschin    -  1899 Luzk     -   1901 Radomysl

1902 Rowno   -   1936 Kostopol     -    1936 Dubno    -    1937 Kowel  -  1937 Jozefin[17].

Die seelsorgerische Betreuung der weit verstreut liegenden deutschen Kolonien stellte die Pastoren vor große Herausforderungen. Die notwendigen, sehr beschwerlichen Reisen übers Land, um wenigstens 1 – 2 mal im Jahr eine Siedlung zu besuchen, brachte sie zeitweilig bis an die Grenze ihrer physischen Leistungsfähigkeit.  Die Erfahrungen einzelner Pastoren aus dem 19. Jahrhundert sind z.T. noch überliefert in Gemeindeberichten und Aufsätzen über ihre „Amtsreisen“.[18]

In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in vielen deutschen Kolonien Russlands zu geistlichen Erweckungsbewegungen und teilweise auch zu Abspaltungen.[19] In Wolhynien breitete sich unter anderem - aus Polen kommend - der Baptismus aus; er erreichte bis 1866 bereits eine Anhängerzahl von rund 3000 und soll z.T. ein Grund gewesen sein für die Zunahme von Trunksucht mit negativen Auswirkungen für die wirtschaftliche Prosperität.[20]

Die Enteignung und Deportation der evangelischen Wolhyniendeutschen 1915/1916  - basierend auf den so genannten  Liquidationserlassen (nach einer Reihe von Jahren mit wachsendem Deutschenhass im zaristischen Russland) - fand eine unrühmliche, an Hetze grenzende Unterstützung durch den orthodoxen Bischof Eulogius, der bereits als Mitglied der 2. und 3. Staatsduma (1907 – 1912) politisch aktiv gewesen war.[21]

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges lebte die deutschsprachige Minderheit in dem neu entstandenen Staatsgebiet Polens in evangelischen Kirchen unterschiedlichen Bekenntnisses: von lutherisch über augsburgisch, augsburgisch-helvetisch bis hin zu Unierten, Reformierten und auch freikirchlichen Bewegungen wie Baptisten, Evangeliums-Christen und weiteren kleinen Sektierungen. Die neue Verfassung Polens gab den religiösen Minderheiten zwar das Recht der Selbstverwaltung  - im Rahmen der staatlichen Gesetze -, jedoch scheiterte das Bemühen, eine Gemeinschaft der protestantischen Kirchen mit überwiegend deutschsprachigen Mitgliedern zu gründen, an den nationalistisch ausgerichteten katholischen Kräften im Land sowie an der polnisch-national geprägten  Haltung der evangelisch-augsburgischen Kirchenleitung in Warschau.[22]  Ein 1923 von Synodalen ausgearbeitetes Kirchengesetz wurde von den staatlichen Behörden nicht genehmigt. Stattdessen mussten die protestantischen Kirchenvertreter letztlich im Jahr 1936 eine vom Staat erlassene Ordnung ihrer Strukturen  und Rechte in Form eines Dekrets des Staatspräsidenten[23] - später zum Gesetz erhoben - hinnehmen.

Die evangelisch-lutherischen Gemeinden in West-Wolhynien wurden der evangelisch-augsburgischen Kirche unterstellt, die eine stark polnisch-nationale Haltung vertrat. Dies zeigte sich beispielsweise in der Entscheidung über die Versorgung mit Pastoren: polnisch-sprachige Gemeinden wurden deutlich besser mit Pfarrstellen ausgestattet als Gemeinden mit überwiegend deutsch-sprachigen Mitgliedern. Eine treibende Kraft in den Bestrebungen der Polonisierung war Superintendent Julius Bursche, der noch zu Beginn des 1. Weltkriegs vom Zaren seines Amtes enthoben und aus dem Kriegsgebiet verbannt worden war - und  dies aufgrund seines Eintretens für die deutschen Kolonistengemeinden in seinem Konsistorialgebiet, deren Vertreibungsschicksal er zu mildern versucht hatte[24] (Kahle 1974, S. 5). Der Posener Konsistorialpräsident Kurt Balan (1855 – 1921) schrieb in einem Bericht 1918 über Julius Bursche: „ (…) Nach allem, was uns über diesen Mann von jeher mitgeteilt worden, ist er eine ganz undurchsichtige und unzuverlässige Persönlichkeit, die infolge des Lavierens zwischen den russischen Regierungsbehörden und dem Polentum früher, bei beiden kein volles Vertrauen besaß und von der nur das eine sicher ist, daß sie aller deutschen Sympathien völlig bar ist und daher jetzt ganz im nationalpolnischen Fahrwasser segeln wird.“[25]

Der Staat sicherte sich mit dem Kirchengesetz aus dem Jahr 1936 weitgehende Eingriffsrechte in die Personalpolitik der Kirche - bis hin zu der Möglichkeit, die Amtsenthebung einzelner Pfarrer zu veranlassen, deren Tätigkeit als staatsschädigend angesehen wurde. Das Gesetz schrieb außerdem die polnische Sprache als Amtssprache der Kirche vor. Einige Pastoren deutschsprachiger Gemeinden schlossen sich zwar zusammen, um gegen die Einschränkungen für die deutschsprachigen Gemeinden zu protestieren - allerdings blieb ihr Bemühen vergeblich, sie wurden letztlich sogar von wichtigen synodalen Funktionen ausgeschlossen (Heike 1955, 127f). Die Polonisierungspolitik in der evangelisch-augsburgischen Kirche unter Superintendent Bursche fand auch Aufmerksamkeit in der obersten Leitungsebene der evangelischen Kirche im Deutschen Reich, die mit einer Stellungnahme an das Auswärtige Amt um Unterstützung der deutschen Glaubensgeschwister in Wolhynien und Mittelpolen warb[26] (Heike 1985, 261). Es kam zu mehreren Gesprächen, die allerdings aufgrund des Kriegsausbruchs 1939 ohne einigendes Ergebnis blieben.

Superintendent Bursche verfolgte weiter - auch  mit Hilfe staatlicher Stellen - gegenüber den deutschen Gemeinden eine repressive Kirchenpolitik mit dem Ziel der völligen Polonisierung. Einige deutsche Pastoren gründeten 1935 als Gegenbewegung eine eigene Arbeitsgemeinschaft unter Vorsitz von Pastor Alfred Kleindienst aus Luzk - eine treibende Kraft unter den protestantischen Pastoren als Gegner der Polonisierung, die an der deutschen Sprache in den Kirchen und der Tradition der deutschen (Privat)Schulen festhalten wollten. Superintendent Bursche ließ jedoch von seinen Zielen nicht ab. Er verhinderte u.a. 1937 die Benennung des von ihm unerwünschten Pastors Kleindienst als Kandidat für die Senioratsversammlung und verfügte darüber hinaus, dass Wolhynien keine Delegierten in die Synode entsenden dürfe.[27] Im Jahr 1938 schließlich  erreichte er, dass Pastor Kleindienst  die Anerkennung der polnischen Staatsangehörigkeit verweigert, mit Predigtverbot belegt und aus dem Leitungsamt der Gemeinde entfernt wurde (Kleindienst soll vorgeblich  - versehentlich? -  nach der Rückkehr aus der Verbannung in Rußland 1921 nicht in das Einwohnerverzeichnis von Luzk eingetragen worden sein und deshalb nach dem Kirchengesetz als nichtpolnischer Staatsbürger kein Recht zur Führung eines Kirchenamts gehabt haben). Ähnliches versuchte Bursche auch gegenüber Pastor Henke aus Rozyszcze einzufädeln, was jedoch nicht gelang[28] (Kneifel, 1980). *)

Die Stimmung in Polen wandelte sich 1939  in offene deutschfeindliche Angriffe - auch auf Pastoren. In Wolhynien wurden einige von  ihnen verhaftet und in das berüchtigte Lager Bereza Kartuska verschleppt  (aus Kostopol: Jakob Fuhr,  aus Rozyszcze: Reinhold Henke, aus Tuczyn: Hugo-Karl Schmidt, aus Kowel: Rudolf Ziegler). Im Gegenzug wurde nach der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen u.a. Superintendent Bursche verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg eingeliefert, wo er erkrankte und schließlich 1942 starb (Heike 1985, S. 263).

Leiter der nach der Umsiedlung errichteten „Litzmannstädter Evangelischen Kirche im Wartheland“ wurde der aus Luzk ausgewiesene Pastor Kleindienst, der im Zuge der  Umsiedlung bzw. Ansiedlung der Wolhyniendeutschen den nationalsozialistischen Behörden auch als Berater diente.

In Ost-Wolhynien - im Herrschaftsgebiet der Sowjetunion - brachte der 1. Weltkrieg mit der Abdankung des Zaren 1917 und nach dem Dekret zur Trennung von Kirche und Staat 1918 einschneidende Veränderungen für die einst staatlich geschützte Struktur der lutherischen Kirche. War bereits durch die Enteignung und Vertreibung der deutschstämmigen Siedler kirchliches Leben weitgehend zum Erliegen gekommen - und selbst in der Verbannung bis 1917 kaum eine Mindestmaß an Seelsorge bei Flüchtlingen und Kriegsgefangenen möglich -, so gestalteten sich in der Folge die Versuche zum Wiederaufbau als sehr mühselig. Mit der Nationalisierung von Produktionsmitteln und Banken verlor die lutherische Kirche ihr gesamtes Vermögen; der kirchliche Immobilienbesitz einschließlich der Kirchengebäude ging in Staatsbesitz über; die Verwaltungsstellen (Generalkonsistorium und Konsistorien) waren nicht länger staatlich unterstützt, Aktenmaterial musste an staatliche Archive abgegeben werden, Religionsunterricht an Schulen wurde verboten. Als „Vorteil“ konnte allenfalls gelten, dass die Pastoren ihre Predigttexte zu besonderen Festtagen und staatlichen Gedenktagen nicht länger mit dem zuständigen Ministerium abstimmen mussten.[29]

Der Personalstatus des Jahres 1922 wies für Wolhynien nur zwei besetzte Kirchspiele aus: in Novograd-Wolynsk war Pastor Rudolf Deringer, in Heimtal Pastor Gustav Uhle (bis 1933) im Amt; als vakant sind genannt: Radomysl, Shitomir, Rowno, Tuczyn, Rozyszcze, Luzk, Wladimir-Wolynsk. [30] Im Juni 1924 trat mit ausdrücklicher Genehmigung der Regierung eine große Synode in Moskau zusammen, bei der eine neue Kirchenverfassung zentraler Beratungsgegenstand war. Außerdem stand auf der Tagesordnung die  Wahl eines leitenden Bischofs, der Beschluss von Maßnahmen zur Besetzung vakanter Pfarrstellen und von Instruktionen für die Amtstätigkeit der Pastoren (Kahle 1974, S. 78). Die folgenden Jahre unter sowjetrussischem Regime sind gekennzeichnet von Aufbaubemühungen der Kirchengemeinden, von Kämpfen um personelle und  finanzielle Ressourcen unter schwierigsten wirtschaftlichen Bedingungen (Kollektivierung, Planwirtschaft, Steuererhöhungen,  Hungersnöte),  aber auch von Auseinandersetzungen zwischen einzelnen leitenden Geistlichen und auf der anderen Seite von staatlichen antireligiösen Repressalien. Besonders einschneidend gestaltete sich die Forderung nach Umnutzung von gemeindeeigenen Bethäusern: im wolhynischen Synodalbezirk sollen 1929/1930 von 72 Bethäusern 35 geschlossen oder für andere Zwecke umgewidmet worden sein (Kahle 1974, S. 293). In den 1930er Jahren kam es verstärkt zu Verhaftungen von Pastoren und verantwortlich tätigen Gemeindegliedern, das Gemeindeleben verlor an Inhalt und Struktur; nur in Wolhynien konnten die traditionell agierenden Küsterlehrer noch über eine längere Zeit in einzelnen Gemeinden Lesegottesdienste halten, Taufen und Beerdigungen vollziehen (Kahle 1974, S. 325). Das evangelisch-lutherische Kirchenleben in der Sowjetunion erstarb schließlich endgültig 1937 mit der Verhaftung bzw. Ausweisung der letzten zehn verbliebenen Pastoren (Kahle 1974, S. 327).   

© M. Walsdorf

Literatur (Auswahl):

Theodor Jungblut

Die Gründung der evangelisch-lutherischen Kirchen in Rußland nebst einer Geschichte der Kirchen ihrer Konfessionen in St. Petersburg

St. Petersburg 1855

Digitalisat: Universität Tartu http://dspace.utlib.ee/dspace/handle/10062/16822

 

Erik Amburger

Geschichte des Protestantismus in Rußland

Stuttgart 1961

 

Martin Hennig

Die evangelisch-lutherische Kirche in Polnisch-Wolhynien

Leipzig 1933

 

Hugo Karl Schmidt

Die evangelisch-lutherische Kirche in Wolhynien

Marburg  1992

 

Eduard Kneifel

Das Werden und Wachsen der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen 1517 - 1939

Vierkirchen 1988

http://eduardkneifel.eu/data/Das_Werden_und_Wachsen_der_Evangelisch-Augsburgischen_Kirche_in_Polen.pdf

 

Eduard Kneifel

Die Geschichte der evangelisch-augsburgischen Kirche in Polen

Niedermarschacht 1962

http://eduardkneifel.eu/data/Geschichte_der_Evangelisch-Augsburgischen_Kirche_in_Polen.pdf.

 

Wilhelm Kahle

Wege und Gestalt evangelisch-lutherischen Kirchentums in Russland: vom Moskauer Reich bis zur Gegenwart

Erlangen, Martin-Luther-Verlag, Überarbeitete Neuauflage 2002

 

Walter Grassmann

Geschichte der evangelisch-lutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der

GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition.

München 2006 (Dissertation 2004)

https://edoc.ub.uni-muenchen.de/5378/1/Grassmann_Walter.pdf

 

Otto Heike

Das Deutschtum in Polen 1918 – 1939, Bonn 1955

Otto  Heike

Die deutsche Minderheit in Polen bis 1939,   Leverkusen 1985

 

Alfred Kleindienst/Oskar Wagner

Der Protestantismus in der Republik Polen 1918/19 bis 1939 im Spannungsfeld von Nationalitätenpolitik und Staatskirchenrecht, kirchlicher und nationaler Gegensätze“

Marburg 1985

 

 

historische Publikationen:

Valerian Krasinski  (+1855)

"Scetch of the Religious Historiy of the Slavonic Nations"

Edinburgh 1851

online:  Bayerische Staatsbibliothek München

http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10025586_00009.html

 

Valerian Krasinski / Wilhelm Adolf Lindau (Übersetzer)  (1774 - 1849)

"Geschichte des Ursprungs, Fortschritts und Verfalls der Reformation in Polen"

Leipzig 1841

online: Bayerische Staatsbibliothek München

http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10449691_00005.html

 



[1] Paul Robert Magocsi „UKRAINE – an illustrated history“, Toronto 2007, S. 36;  einem anderen Hinweis zufolge kam das Christentum allerdings noch früher in das russländische Reich:   die Witwe des Großfürsten Oleg  (+ 913) - Olga - wurde im Jahr 955 in Konstantinopel getauft , woraufhin auch einige ihrer Untertanen in Russland den christlichen Glauben annahmen.  Wladimir war ihr Enkel. Die nicht-unierte orthodoxe Kirche nannte lange Jahrhunderte Olga - mit dem Taufnamen Helena - die Verbreiterin des Christentums und gedachte ihrer als Heilige in öffentlichen Kirchengebeten. (vgl. Johann Andreas Träger  "Historische Aufschlüsse über Religion und Kirchenwesen in Russland", Landshut 1814)

[2] Pierre d’Avity (1573 – 1635) Les Etats Empires et Principautez  du Monde, Paris 1613, Seite 768

https://books.google.de/books?id=zI5BAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false ; vgl. auchChristiane Schubert, Wolfgang Templin « Dreizack und Roter Stern. Geschichtspolitik und historisches Gedächtnis der Ukraine“, Berlin 2015; Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, Seite 16: „… das orthodoxe Christentum [wurde] ein der heidnischen Bevölkerung von oben auferlegter Staatsglaube. Zunächst kam es zu einer länger andauernden Koexistenz christlicher und heidnischer Glaubenselemente. Letztere lebten in eigenen, heimlich gepflegten Kulten fort.“

[3] Erik Amburger « Geschichte des Protestantismus in Russland », Stuttgart 1961, S. 9

[4] ders. a.a.O. S. 14

[5] Pierre d’Avity  « Les Etats Empires et Principautez  du Monde », Paris 1614, S. 763

http://bsb3.bsb.lrz.de/~db/1035/bsb10358856/images/index.html?id=10358856&fip=xdsydeayaxsqrssdaseayaewqxdsydewqxdsyd&no=54&seite=789  

[6] André Guillaume Contant d’Orville « Les fastes du royaume de Pologne & de l’empire de Russie »  Paris 1769, Seite 130 ; Anton Friedrich Büsching, « Neue Erdbeschreibung », Erster Band, 6. Auflage, Hamburg 1770,   S. 620f ; Anton Friedrich Büsching  „Allgemeine Nachricht von den evangelisch-lutherischen Gemeinen und Kirchen in Rußland“,  Königsberg 1764  (28 Seiten) Digitalisat: Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel   http://diglib.hab.de/drucke/tp-kapsel-1-11s/start.htm

[7] M. le Clerc, „Histoire physique, morale, civile et politique de la Russie ancienne“ Paris 1783, S. 292

[8] Philipp Strahl „Beyträge zur russischen Kirchengeschichte“, Band 1, Halle 1827, Seite 71

[10] Brockhaus „Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur;“  Band 3, Leipzig 1833, Seite 825

[11] Amburger a.a.O. , S. 77)

[12] P. von Colongue „Gesetz für die Evangelisch-lutherische Kirche in Russland“ Riga 1898

https://archive.org/stream/gesetzfrdieevan00cologoog#page/n5/mode/2up  

[13] Henri Ternaux – Compans  « Notice sur les imprimeries qui existent ou ont existé en Europe » Paris 1843, Seite 97

[14] Aleksander Kossowski (1886 – 1965) „Zarys dziejów protestantyzmu na Wołyniu w XVI – XVII w” (Die Geschichte des Protestantismus in Wolhynien im 16. - 17. Jahrhundert), in:  Rocznik Wołyński  Jahrgang 1934, S. 233 – 259)

[15] Martin Hennig „Die evangelisch-lutherische Kirche in Polnisch-Wolhynien“, Leipzig 1933

[16] nach:  Hugo Karl Schmidt „Die evangelisch-lutherische Kirche in Wolhynien“ Marburg 1992

[17] Jozefin-Troscianiec = einzige polnisch-sprachige lutherische Kirchengemeinde in der Region

[18] Dreizehn Gemeindeberichte des wolhyniendeutschen Kirchspiels Roshischtsche 1878 – 1902:  

http://www.myvolyn.de/wolhynien-spezial/gemeindeberichte-19-jh.html

Eine Amtsreise durch Wolhynien - Bericht eines Pastors 1871:

http://www.myvolyn.de/wolhynien-spezial/amtsreise-1871.html

„Deutsche Pionierarbeit in Wolhynien“ - Bericht aus dem Kirchspiel Heimthal:

http://www.myvolyn.de/wolhynien-spezial/kirchspiel-heimthal.html

[19] Amburger a.a.O., S. 92f

[20] Amburger a.a.O., S. 95

[21] Amburger a.a.O.,  S. 111; vgl. auch Biographie Nr. 5034, Evlogij Georgievskij, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)'   www.pacelli-edition.de/gnd119529629

[22] Otto Heike  „Das Deutschtum in Polen 1918 – 1939“, Bonn 1955, S. 120f

[23] Dekret des Staatspräsidenten über das Verhältnis des Staates zur Evang.-Augsb.. Kirche in Polen vom 25. November 1936;   im Volltext in : Otto Heike „Das Deutschtum in Polen 1918 – 1939“, Bonn 1955, 7. Anhang – S. 277 - 289

[24] Wilhelm Kahle „Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sovetunion 1917 – 1938“, Leiden 1974, S. 5

[25] zitiert aus: Alfred Kleindienst/Oskar Wagner „Der Protestantismus in der Republik Polen 1918/19 bis 1939 im Spannungsfeld von Nationalitätenpolitik und Staatskirchenrecht, kirchlicher und nationaler Gegensätze“ Marburg 1985, S. 64 f, FN 12

[26] Otto  Heike „Die deutsche Minderheit in Polen bis 1939“,  Leverkusen 1985, S. 261

[27] In Wolhynien bestanden zu dieser Zeit 9 evangelische Gemeinden mit 53 700 deutschen und 1550 polnischen Kirchengliedern, mit 9 deutschen und 2 polnischen Pastoren  (vgl. Kleindienst / Wagner a.a.O. S. 227)

[28] Eduard Kneifel „Bischof  Dr. Julius Bursche – Sein Leben und seine Tätigkeit 1862 – 1942“

Vierkirchen bei München, 1980 http://eduardkneifel.eu/data/Bischof_Dr_Julius_Bursche.pdf ,  Kleindienst/Wagner a.a.O.  S. 330 f

*) vgl. hierzu auch "Evangelisches Kirchenblatt. Monatsschrift für evangelisches Leben in Polen,"  Jahrgang 17 , Ausgaben Oktober und November 1938, Jahrgang 18, Ausgabe November 1939

>>> online: http://www.wbc.poznan.pl/dlibra/publication?id=300447&from=&dirids=1&tab=1&lp=1&QI=

[29] Kahle 1974, S. 20 ff;  Amburger 1961, S. 114

[30] Kahle 1974, S. 506; im Personalstatus des Jahres 1927 ist für Shitomir Pastor Nikolai Tomberg aufgeführt (S. 581)