Über die Rechte der Kolonisten (1908)*

D e r   V i z e p r ä s i d e n t   d e r   R e i c h s d u m a   B a r o n   A.   v.  M e y e n d o r f f    veröffentlicht folgende Erklärung im „St. Petersburger Evangelischen Sonntagsblatt“: 

An die 55 Wirte der Kolonie Dermanka-Marjanowka, Wolost Chrolin, Poststation Schepetowka, Kreis Sasslaw, Gouv. Wolhynien, als Antwort auf ihre Darlegung vom 20 Dez. 1907, welche mir am 29. Dezember zuging.

Genannte Wirte klagen darüber, daß sie, als  der   d e u t s c h e n   N a t i o n a l i t ä t      a n g e h ö r i g,   in ihren Rechten als russische Staatsbürger, besonders bei etwaigem Landerwerb,    v o n   d en   B e h ö r d e n,                    b e s o n d e r s    d e r    B a u e r n a g r a r b a n k,   g e s c h ä  d i g t,  b e z i e h u n g s w e i s e  z u r ü c k -         g e s e t z t    w ü r d e n,  und erwähnen als Beweis dafür die Behandlung, welche den deutschen Kolonisten im Rownoschen Kreise seitens der genannten Bank widerfahre. Zugleich bitten die betreffenden Wirte, durch mich andere Herren Duma-Abgeordnete zu veranlassen, „für das gute, volle Bürgerrecht der Kolonisten einzutreten und gegen irgendwelche Verdächtigungen ihrer Reichstreue energisch zu protestieren.“

Ich glaube die Absender der Darlegung  v e r s i c h e r n  zu können, daß die  D u m a a b g e o r d n e t e n   d i e s e   B i t t e   n i c h t   u n b e a c h t e t   l a s s e n    w e r d e n.

Zugleich erachte ich es für meine Pflicht, die 55 Wirte der Kolonie Dermanka auf folgende zwei Umstände aufmerksam zu machen:

  1. Zur Erfüllung der den Dumaabgeordneten zugedachten Aufgabe bedarf es einer genaueren Darlegung derjenigen Vorkommnisse, in welchen die gedachten Wirte eine gesetzeswidrige Schädigung ihrer Rechte und Interessen erblicken; erwünscht wären als Beweismittel Kopien offizieller behördlicher Bescheide.
  2. Eine Rechtsausgleichung sämtlicher russischen Untertanen als Staatsbürger und, im Zusammenhang hiermit, eine Rechtsausgleichung sämtlicher Klassen der landbauenden Bevölkerung ist im Allerhöchsten Manifest vom 17. Oktober 1905  nicht enthalten; immerhin wird im Allerhöchsten Ukas vom 5. Oktober 1906 über Aufhebung einiger Rechtsbeschränkungen der bäuerlichen und steuerbaren Bevölkerung anerkannt, daß infolge der Manifeste vom 6. August und 17. Oktober 1905, durch welche auch die bäuerliche Bevölkerung zur gesetzgeberischen Tätigkeit herangezogen worden sei, „die weisen Pläne des Kaiserlichen Befreiers Alexander des II., auf den von Seiner Majestät verkündeten Grundlagen der bürgerlichen Freiheit und der Gleichheit aller russischer Untertanen vor dem Gesetze zu vollziehen seien.“

Diese große Aufgabe ist im Ukase vom 5. Oktober 1906 in Angriff genommen worden, aber bei weitem noch nicht endgültig gelöst. Hierüber darf kein Zweifel herrschen, wenn man die Rechtslage der deutschen Kolonisten in Rußland richtig verstehen will.

Die deutschen Kolonisten in Rußland müssen, ebenso wie jeder andere Stand, wissen, daß es ein gleiches, volles Bürgerrecht in Rußland noch nicht gibt; weder ein Ausgleich aller Stände, noch auch ein Ausgleich aller verschiedenen Klassen der landbauenden Bevölkerung ist vollzogen und deshalb müssen sich auch die Wirte der Kolonie Dermanka fragen, nicht ob ihr volles Bürgerrecht verletzt sei, sondern ob ihre Rechte als Kolonisten verletzt werden.

Wie wenig bis jetzt ein Ausgleich der Rechte, welche in Bezug auf die Landversorgung (по3емельное устройство) den früher leibeigenen russischen Bauern von dem Gesetze zuerkannt werden, mit ähnlichen Rechten der deutschen Kolonisten und sonstigen Landbauern zustande gekommen ist, das lehrt eine aufmerksame Durchsicht der Gesetzerlasse, welche infolge des Manifestes vom 3. November 1905 über die Wohlfahrt der bäuerlichen Bevölkerung ergangen sind. Von diesen Gesetzen lassen sich einige erwähnen, welche den Kolonisten gleichе Rechte wie den Bauern (крестьяне) erteilen und zwar: der Ukas vom 27. August 1906 über die Anweisung der Domänenländereien zum Verkauf (§ 8), vielleicht auch der Allerhöchste am  21. Oktober 1906 bestätigte Beschluß des Ministerrats über Verkauf von Ländereien aus dem Bestande von Majoraten usw. Anderseits sind aber die Vergünstigungen bei der Beleihung durch die Bauernagrarbank, zum Beispiel bis zum vollen Werte der zu kaufenden Ländereien (Abt. 2 des Ukases vom 3. November 1905) und die Herabsetzung des Zinsfußes (Ukas vom 14. Oktober 1906) und schließlich die Beleihung des  sogenannten  Надыль  (Ukas vom  15. November 1906) nicht ohne weiteres auf die Kolonisten zu beziehen, ebensowenig wie der Ukas über den Verkauf der  Apanagen  (удыльныя 3емли) vom 12. August 1906. Von diesen Gesetzen hat seinem Sinne nach nur der oben unterstrichene Ukas vom 14. Oktober 1906 über Herabsetzung der Zinsen an die Bauernagrarbank Anwendung auf diejenigen Kolonisten, welche mit Hilfe dieser Bank Land gekauft haben, obgleich auch dieses bestritten werden könnte.

Aus dem Gesagten ergibt sich, wie genau die Darlegung an die Dumaabgeordneten sein muß, damit sie genau feststellen können, ob die Rechte der deutschen Kolonisten verletzt werden.

Hier darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch unter den deutschen Kolonisten rechtliche Verschiedenheiten bestehen. So ist besonders zu merken, daß alle sogenannten deutschen Kolonisten, welche sich als Pächter in Rußland niedergelassen haben, besonders auf Länderein von Privatpersonen, selbst nachdem sie russische Untertanen wurden, ebensowenig wie dies in Deutschland der Fall wäre, dadurch ein Recht erworben haben, das von ihnen gepachtete Land gegen den Willen des Grundeigentümers zu kaufen. Ein solches Recht ist in Rußland, besonders in den Westgouvernements, und im Kaukasus als strenge Ausnahme nur wenigen Kategorien von langjährigen, meist sogar Erbpächtern, durch besondere Gesetze verliehen worden.   Ein derartiges Vorrecht ist also den deutschen Pächtern, ebensowenig wie den meisten ihrer russischen Landsleute nicht vorbehalten, und jeder Pächter muß sich dessen bewußt sein, daß für ihn ein Zeitpunkt und Umstände kommen, welche ihn zum Verlassen der gepachteten Scholle zwingen können. Für die Zukunft läßt sich eine Besserung der Rechtslage bei langjährigen Pachten erhoffen, da man von der Notwendigkeit einer solchen Besserung viel sprechen hört, und seiner Zeit auch die  Особое совышаніе о нуждяхь сельско-хо3яйственной промышленности  ein neues für die Pächter günstigeres Pachtrecht empfahl; es ist wohl anzunehmen, daß, wie in anderen Fragen, so auch in dieser die Vorarbeiten der genannten Совышаніе nicht ohne Verfolg bleiben werden.

Diese eingehendere Ausseinandersetzung soll Mißverständnissen, wie sie mir in einer anderen Zuschrift deutscher Kolonisten begegnen sind, entgegentreten.

B a r o n    A.   M e y e n d o r f f

Glied der Reichsduma

* zitiert aus der Düna-Zeitung, Ausgabe vom 21. Januar 1908;

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