(Sozial)Geschichte und Umweltbedingungen Wolhyniens

in der Zeit der deutschen Besiedlung

im Spiegel zeitgenössischer Presse

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Die Geschichte der Deutschen in Wolhynien wurde bereits vielfach beschrieben: eine frühe Quelle sind die Gemeindeberichte der lutherischen Pastoren vom Ende des 19. Jahrhunderts, Volkstumsforscher bereisten Wolhynien in den 1920er und 1930er Jahren und publizierten ihre Beobachtungen,  und schließlich gibt es aus der jüngeren Zeit  eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, Zeitzeugenberichten und romanhaft biografischen Erzählungen. Nun eröffnet die Digitalisierung historischer Printpublikationen neue Recherchemöglichkeiten und erlaubt damit, aus wiederum anderen Blickrichtungen - quasi durch die Augen von Zeitgenossen -  Eindrücke von Ereignissen im Lauf der Geschichte zu gewinnen.

Die lettische Nationalbibliothek hat eine große Zahl der in den baltischen Ländern erschienenen, historischen Zeitungen - auch deutschsprachige -  digitalisiert und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.  In weiten Teilen handelt es sich um die deutsche Übersetzung bzw. Zusammenfassung von Artikeln aus russischen Zeitungen.  Die im Online-Portal mit dem Suchwort „Wolhynien“ auffindbaren Texte1) sind weniger solche Beiträge, die die Situation und Ereignisse aus dem unmittelbaren Inneren wolhyniendeutscher Kolonien zum Thema haben, sondern vielmehr Meldungen  über das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Geschehen in ihrem Umfeld. Der Blick wird geweitet auf die Lebenslage der einheimischen Bevölkerung, auf andere Bevölkerungsminder­heiten und auch auf Herausforderungen des alltäglichen (Zusammen)Lebens. Über einen Zeitraum von rund 140 Jahren lässt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Informationen erschließen, und es entsteht eine Art Kaleidoskop, in dem das Bild vom Leben der Wolhynien-Deutschen neu gerahmt wird und mit vielfarbigen Facetten aufscheint. Einige Beispiele sind als Ergebnis einer Sichtung von mehr als 200 Zeitungsbeiträgen nachfolgend zusammengestellt.

Das Interesse von Grundbesitzern in Wolhynien an der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte belegt bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Mitteilung in der Ausgabe der „Rigischen Anzeigen“ vom 30.8.1809. Ein Gutsbesitzer im Städchen Czartorysk (am Styr gelegen) bietet einem ansiedlungswilligen Handwerker oder Kaufmann die kostenlose Bereitstellung aller Baumateralien für die Errichtung eines Hauses an und verspricht die Übertragung des Baugrundstücks zum „immerwährenden Eigenthum“ des Ansiedlers nebst Freiheit von Abgaben und sonstigen Verpflichtungen für die ersten drei Jahre.

Schwere Unwetter haben die landwirtschaftlich geprägte Region immer wieder heimgesucht. So wird beispielsweise von Gewitterstürmen mit extremen Hagelschlägen2) berichtet, die 1829 im Borißowschen Kreis, 1840 in den Kreisen Dubno, Kremenetz, Luzk und Shitomir, 1844 in zahlreichen Ortschaften der Kreise Dubno, Sasslaw und Nowograd-Wolynsk sowie 1867 im Kreis Dubno (hier wird die Mennonitenkolonie Grünthal genannt) mehrere hundert Wohnhäuser teilweise oder völlig zerstörten, daneben auch Kirchen, Scheunen, Mühlen, Ziegeleien etc. großen Schaden zufügten.  Im Jahr 18883) gab es einen sehr harten Winter, in dem einem Gutsherren unter der hohen Schneedecke 1300 Schafe erfroren sind. Wolfsrudel4), die auch Menschen angriffen, machten der Bevölkerung zu schaffen, wie zwei Berichten aus 1878 und 1888 zu entnehmen ist. Schädlingsbefall bedrohte die landwirtschaftlichen Anbauflächen:  18475) hatte sich die Kartoffelkrankheit in Wolhynien ausgebreitet. 19266) bedrohte eine bis dahin unbekannte Käferplage die Hopfenernte. Auch Ernteausfälle beim Getreide bereiteten in Wolhynien von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten: 19077) wird gemeldet, dass „die großen Mühlen in Wolhynien, die Sasslawer, Schepetower und Czartorisker", im Kaukasus (Kuban-Gebiet) insgesamt 12.000 Waggons Weizen aufgekauft hatten.  

Eine lästige  Erscheinung muss - auch für die deutschen Kolonisten - die Zunahme bandenmäßigen Pferdediebstahls gewesen sein, wovon 18778) berichtet wird:  die Diebe besaßen sogar die Dreistigkeit, den auf den Landstraßen vorbeifahrenden Kutschen die Pferde auszuspannen, wobei die Pferde der deutschen Kolonisten wohl besonders begehrt waren, da für sie höhere Preise erzielt werden konnten. In einem Fall griffen wütende Bauern zur Lynchjustiz, der Anführer der Diebesbande verstarb an den Folgen der Prügel.  Der gesamtwirtschaftliche Schaden durch Pferdediebstahl muss insgesamt sehr groß gewesen sein, denn er konnte für einen Bauern den Ruin bedeuten, wenn ihm die wichtigen Arbeitstiere abhanden kamen. 18859) wurde  für die Gouvernements Podolien und Wolhynien der  Schaden auf rd. 600.000 Rbl. jährlich beziffert. Gerichtsverfahren verliefen mangels ausreichender Beweise oft im Sande.

Feuersbrünste richteten in den Ortschaften und Städten meist verheerende Schäden an, denn die dicht an dicht errichteten Holzbauten gaben den Flammen reichlich Nahrung. Die Stadt Ostrog mit 20.000 Einwohnern wurde 188910) durch eine Brandkatastrophe nahezu völlig zerstört.  Das gleiche Schicksal soll die Stadt Rowno etwa zehn Jahre früher ereilt haben. Die Gouvernements-Hauptstadt Luzk wurde im Mai 189611) durch ein großes Feuer zur Hälfte eingeäschert: etwa 100 Holzhäuser brannten gänzlich nieder, von den Steinhäusern blieben nur die Mauern stehen. Für die betroffenen Bewohner bedeuteten solche Katastrophen den Sturz in völlige Armut.  Auch für die Bauern war der Ausbruch eines Feuers auf dem Hof die Katastrophe schlechthin, denn Feuerversicherungen gab es zu dieser Zeit wohl kaum.  Abhilfe versuchte man in Wolhynien im Jahr 1907 12) zu schaffen, als in Kiew auf Initiative des baltischen Rechtsanwalts von Gööck aus Luzk  ein Unterstützungsverein für die deutschstämmigen Siedler in Wolhynien, Kiew, Tschernigow und weiteren angrenzenden Gouvernements gegründet wurde, der sich als erste Aufgabe die Einrichtung einer Feuerversicherungskasse auf Gegenseitigkeit setzte. Die einheimischen Bauern hatten sich bereits 1892 13)  zu einer solchen Vereinsgründung entschlossen, um für Einkäufe  bessere Bedingungen aushandeln zu können und für ihre Produkte bessere Absatzmöglichkeiten zu erschließen. Mitglieder dieses Vereines konnten jedoch nur russische Bauern werden, andere Nationalitäten einschließlich der Juden waren ausdrücklich ausgeschlossen.

Die Bekämpfung des Alkohol-Missbrauchs war stets ein Anliegen der Regierungsstellen; 1896 wurde in Wolhynien der staatliche Branntweinverkauf14) eingeführt, der wohl auch einen spürbaren Qualitätsverlust zur  Folge hatte - wie einem Leserbrief 189915)  zu entnehmen ist. Findige Menschen kamen schon früher (1897) bei der Suche nach Alternativen für den teuren Branntwein darauf - wie aus Shitomir berichtet wird16) -,  dass die sogenannten Hoffmannstropfen  ein preisgünstiger Ersatz waren.

Der Entwicklungsstand des öffentlichen Kommunikations- und Transportwesens zeigt sich in verschiedenen kurzen Meldungen:  186517) wurde  eine Postverbindung zwischen Shitomir und Rowno eingerichtet.  Die Eröffnung der Weichsel-Bahn 187718) brachte, von Kowel ausgehend, neue nützliche Verbindungen für den Güter- und Personenverkehr in Richtung Königsberg und Danzig. Die Fertigstellung einer Telegrafenlinie von Kiew über Nowograd-Wolynsk, Shitomir und Rowno nach Brody  (Galizien / Österreich-Ungarn) schon im Jahr 185719) war eine ausführlichere Meldung wert, einschließlich des Hinweises, dass die „Instrumente“ für den Bau „von den Ufern des Rheins“ und aus „Berliner Fabriken“ stammten.  In der Stadt Shitomir wurde 189920) die von der Firma Siemens & Halske (St. Petersburg) erbaute Straßenbahn eingeweiht.

Die Gründung von Großunternehmen ist relativ selten Gegenstand der Berichterstattung.  Ein Beispiel aus dem Jahr 186721) ist die staatliche Genehmigung für die Errichtung einer „Gesellschaft für inländische Baumwolle aus der Seidenpflanze“ (asclepias syriaca)“ mit einem Grundkapital von 2 Millionen Rubel. Im Jahr 188022) wiederum erwarben zwei polnische Großfabrikanten das wolhynische Gut Stepanowka mit einer Waldfläche von 40.000 Desjatinen wo sie planten, mit rund 6000 bis 10.000 Arbeitern in großem Stil mit Unterstützung von Maschinen Waldwirtschaft und Holzindustrie zu betreiben. Wie weit die Technisierung der Waldbewirtschaftung zu diesem Zeitpunkt bereits entwickelt war, ist schwer einzuschätzen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Meldung aus dem Jahr 1907 23), in der von der Erfindung eines neuartigen Erdbohrers für Baumpflanzung im Rahmen von Aufforstungsmaßnahmen berichtet wird, an der ein deutscher Kolonist und Schmiedemeister maßgeblich beteiligt war. Im Jahr 1884 24) zeugt eine Meldung von der Besorgnis der Regierungsstellen über den rapiden Abbau der Waldflächen. Grund ist u.a. der steigende Holzverbrauch der Branntweinbrennereien, Bierbrauereien und Zuckerfabriken. Der Gouverneur von Wolhynien beantragte daher die Genehmigung, nach Kohlelagerstätten forschen zu lassen. Im Kontext der Berichterstattung über ein geplantes Arbeitsschutzgesetz 187525) - insbesondere für Frauen und  Kinder - ist zu erfahren, dass im Gouvernement Wolhynien zu jener Zeit rd. 1400 zu kontrollierende Fabrikbetriebe bestanden. Im Jahr 190826) führte die Aktiengesellschaft Karl Scheibler aus Lodz Verhandlungen mit dem Eigentümer der Stadt Rozyszcze, Fürst Golizin, über den Erwerb des Grundbesitzes, um dort Tuchfabriken zu errichten; das Preisangebot belief sich auf 2 Mio Rubel.

Dass in Wolhynien  ganze Ortschaften und Städte im privaten Besitz waren, wird in einer Meldung aus dem Jahr 186827) bereits als „Rest des mittelalterlichen Lehnswesens“ beschrieben: Mitte des 19. Jahrhunderts standen die Städte Dubno, Rowno, Sasslaw, Starokonstantinow und Ostrog noch im Eigentum einzelner Adeliger, außerdem noch 129 weitere kleine Ortschaften  („Flecken“).  im Februar 190028) wird gemeldet, dass dies in Wolhynien noch immer für 5 Städte galt. Für die Bewohner brachte diese Situation durchaus auch erschwerte Bedingungen mit sich: sie mussten neben dem Zins oder einer Pacht, die in Höhe und Zahlungsmodus nicht geregelt waren, auch Einschränkungen in der Gewerbeausübung in Kauf nehmen.  Im Jahr 190829) bot der österreichische Graf Offensdorf der Besitzerin der Stadt Dubno, Gräfin Schuwalow, 4 Millionen Rubel für den Erwerb der Grundstücke. Er plante, das Land zu parzellieren und Teilstücke einzeln weiter zu verkaufen.

Wolhynien war in der Zeit der deutschen Besiedlung mehrfach von Cholera-Epidemien betroffen: z.B. in den  1840er, 1860er, 1880er und  1890er Jahren30).  Die erste Epidemie hatte 1847 zunächst nur einen kleinen Bereich erfasst: den Kreis Owrutsch, und hier seinen Anfang genommen in dem Flecken Naroditchi, in dem - wie einer hier ergänzend herangezogenen französischen Studie aus dem Jahr 184931) zu entnehmen ist - von 218 erkrankten Personen 100 starben.  (Erwähnt wird in der Studie, dass mehr als drei Viertel der angesteckten Personen im unteren Teil des Ortes in der Nähe des sumpfigen Flussufers lebten und die Bewohner im oberen Bereich des Flußlaufes kaum betroffen waren. Diese Beobachtung ist zu diesem Zeitpunkt bemerkenswert, denn sie gibt einen Hinweis darauf, dass die Cholera ein Problem der Trinkwasserhygiene ist – eine Erkenntnis, die nach dem damaligen Stand der Forschung noch nicht nachgewiesen bzw. hoch umstritten war.) Während einer späteren Cholera-Epidemie Ende des 19. Jahrhunderts brachte einer Zeitungsmeldung zufolge der Sommer des Jahres 1895 einen plötzlichen Anstieg in Wolhynien: innerhalb eines Monats stieg die Zahl der Ortschaften, in denen Erkrankungen gemeldet wurden, von 85 auf 330.

Zeitlich fast parallel zur zweiten Welle der Koloniegründungen durch Deutsche gab es ab 1869 einen Siedlerzustrom von Tschechen 32) aus Böhmen. Sie waren mehrheitlich Hussiten.  Nach dem Erlass von mehrfach verschärften, einschränkenden Regelungen für den Immobilienbesitz von Bürgern ausländischer Nationalität (erstmals ab 188433)) in der westlichen Grenzregion, die ausdrücklich solche Pächter oder Eigentümer ausnahm, die „rechtgläubig“ waren, traten mehrere Tausend Wolhynien-Tschechen zur orthodoxen Kirche über. Übertritte von lutherischen Wolhyniendeutschen hat es deutlich weniger gegeben: eine Statistik aus dem Jahr 188834)  weist 1.660 Übertritte von Lutheranern aus, und nach einer Meldung aus 189335) sind 21 lutherische Bewohner der Kolonie Julianowka  - Kreis Nowograd-Wolynsk – in die orthodoxe Kirche aufgenommen worden.  

 

Wolhynien war eines der Gouvernements, die den so genannten Ansiedlungsrayon im Westen des russischen Reiches bildeten, der den Juden als ausschließliches Aufenthaltsgebiet zugewiesen war. Quantitativ war diese Bevölkerungsgruppe stärker als die der Wolhynien-Deutschen oder der Wolhynien-Tschechen. Die jüdische Bevölkerung lebte überwiegend - mehr schlecht als recht - von Handel und Handwerk, nur ein sehr geringer Teil betrieb Landwirtschaft. Im Jahr 187136) wird berichtet, dass in Wolhynien 25% der Zuckerfabriken, insgesamt 119 von 198 Bierbrauereien, 90 % der 9535 Mühlen, sämtliche 19.000 Branntweinschänken  von Juden betrieben wurden. 188437) besagt eine Statistik, dass im gesamten Gouvernement rd. 290.000 Juden lebten, davon sicherten sich nur 93 Familien (550 Personen) ihre wirtschaftliche Existenz durch Ackerbau. Anfeindungen aus der Bevölkerung waren die Juden fast ständig ausgesetzt. 186738) erinnerte der Gouverneur von Wolhynien mit einem Rundschreiben an die Polizeibehörden daran, das Verbot jüdischer Kleidertracht unter Strafandrohung durchzusetzen und auch darauf zu achten, dass die jüdischen Frauen keine Perücken tragen. 190839) wurde in einer Zeitschriftennotiz ein Boykott jüdischer Waren vorgeschlagen. Dagegen hatte noch 188640) die Stadtverordnetenversammlung von Luzk versucht, die gesetzlich vorgesehene Ausweisung von Juden (innerhalb einer 50-Werst-Zone von der Reichsgrenze, die auch für Luzk galt) durch eine Intervention beim Innenministerium zu verhindern; Grund waren offensichtlich rein wirtschaftliche Interessen, denn es wurde „ein Verfall der hiesigen Geschäfte und eine bedeutende Reducierung der Stadteinnahmen“ befürchtet. Die jüdische Bevölkerung selbst bemühte sich wohl auch möglichst, auffallendes Verhalten zu vermeiden: 190341) wird über den Aufruf eines „Krons-Rabbiners“ berichtet, „den Sabbath möglichst still zu verbringen, nicht auf den Boulevards spazieren zu gehen und Anhäufungen in öffentlichen Localen zu vermeiden“.

Einen eklatanten Ärztemangel beklagt ein Bericht aus dem Jahr 188942). Ursache sollen einerseits die geringen Gehälter und andererseits die Überlastung der vorhandenen Mediziner mit staatlichen Gutachteraufträgen gewesen sein. Die Folge dieses Mangels waren die eher schädlichen Behandlungen und Medikamentengaben  durch „unwissende“ Barbiere und Apotheker.

Der Kinderreichtum der Wolhynien-Deutschen ist fast sprichwörtlich. Ein besonderes Beispiel wurde 189143) aus einer deutschen Kolonie im Raum Dubno gemeldet. Dort soll es zwei Frauen gegeben haben, von denen jede 19 Kinder hatte.  Letztlich konnte eine große Nachkommenschaft eine Kolonistenfamilie aber auch in wirtschaftliche Nöte bringen, wenn - wie 190944) von einer Familie im Bereich der Stadt Nowograd-Wolynsk gemeldet wird - für die Enkel- und Urenkelgeneration nicht mehr ausreichend eigenes Land zur Verteilung oder mangels Zukaufmöglichkeiten zur Verfügung stand und das Geld für eine Auswanderung fehlte.

Die Ziele der Russifizierungspolitik zeigen sich beispielhaft in Berichten über amtliche Anweisungen zur  Neubenennung deutscher Kolonien mit russischen Ortsnamen (188645)), über die Verpflichtung zur Erteilung des Schulunterrichts in russischer Sprache (188946)), über eine Petition deutscher Kolonisten an den Ministerpräsidenten (190747)), in der u.a. die Wiedereinführung von Deutsch als Unterrichtssprache in den Schulen gefordert wird (dem Anliegen wurde nachfolgend zumindest nur für Elementarschulen entsprochen). Es wurden auf Regierungsebene außerdem Überlegungen angestellt48), Kolonistendörfer nicht mehr als abgesonderte Ansiedlungen zuzulassen, sondern nur noch in der Nähe russischer Dörfer, oder die bislang selbstverwalteten deutschen Kolonien der lokalen Verwaltung zu unterstellen, ihre Bewohner in Bezug auf Abgaben und sonstige Verpflichtungen den russischen Bauern gleich zu stellen, damit nach und nach eine Verschmelzung mit der einheimischen Bevölkerung stattfindet.

Eine große Zahl von Meldungen dreht sich um die verschiedenen Wellen der Rückwanderung bzw. Auswanderung49): nach Deutschland, nach Polen, nach Amerika und Kanada ab Ende des 19. Jahrhunderts, später auch nach Brasilien, Mexiko, Sibirien. Einen breiten Raum nimmt auch die Darstellung der ausländerfeindlichen Regierungspolitik ca. ab 1880 ein – angestachelt zusätzlich durch hetzerische antideutsche Presse. Die Umsiedlung eines Teils der wolhyniendeutschen Bauern nach Lettland und Estland ab 190750) wird vereinzelt thematisiert. Berichte über die Enteignung und Deportation der Wolhynien-Deutschen ins Innere des russischen Reiches in den Kriegsjahren 1915/191651)  und ihre Situation danach sind ebenfalls zu finden. Vereinzelt52) wird von Auswanderungen bereits unmittelbar nach Erlass des Gesetzes über den Verbot von Landbesitz im Februar 1915 berichtet, sowie von der Weigerung der Kolonisten, ihre Felder zu  bestellen53), weil der Gewinn aus der Ernte ihnen durch die Aussiedlung verloren gehen würde. Kolonisten, die sich nach der Deportation an ihren neuen Wohnorten im Inneren Russlands weigerten, durch Arbeit zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen, wurde 191654) der Entzug der staatlichen Unterstützung angedroht.

Einige Zeitungsaufsätze beschreiben die Lage der geflüchteten Wolhynier in Deutschland in den 1920er Jahren55), denen – angesichts der Ungewissheit einer Rückkehr in die wolhynischen Heimatdörfer -  eine nachhaltige Existenzsicherung vielfach nicht gelang. Sie waren zudem oft unwissentlich zu Staatenlosen geworden, denn  mache hatten es versäumt, sich zur Vermeidung des Verlustes der Staatsangehörigkeit in die entsprechenden Matrikel des Konsulats eintragen zu lassen (nach den Regelungen des auf preußischem Gebiet geltenden Staats- und Reichsangehörigkeitsrechts von 1870/1871 erlosch die Staatsangehörigkeit bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Ausland; wenn nicht rechtzeitig eine Verlängerung beantragt wurde).

Die vorfindbaren Meldungen über die Umsiedlung 1939/40 und über die Lebensbedingungen im Warthegau sind erkennbar von der Nazi-Ideologie geprägt. Als ein letztes Beispiel sei die Mitteilung vom 6. Januar 194256) genannt, nach der die im Warthegau angesiedelten Wolhynien- und Galizien-Deutschen einem Aufrufe folgend  ihre schweren Pelze, die sie im Winter 1939/40 bei ihrer Umsiedlung zum Schutz vor Schnee und klirrender Kälte getragen hatten,  gespendet haben für die deutschen Soldaten an der Ostfront.

© M. Walsdorf 

 

vgl. auch: ausführliche Sammlung von Presseartikeln:

Fassung, Stand Juni 2020 (pdf   5,5 MB) 

ergänzte Fassung, Stand März 2021 (pdf 6,68 MB)

überarbeitete Fassung, Stand August 2021 (pdf 6,7 MB) 

Neu: überarbeitete Fassung, Stand März 2022  >>> pdf 7,8 MB


Fundstellen: 

1)  http://www.periodika.lv/#searchResults;simpleQuery=Wolhynien

2)  Rigasche Zeitung 29.10.1829, 28.9.1840, Düna-Zeitung 19. 9. 1844; 

     Rigasche Zeitung 20. 5. 1857

3)  Düna-Zeitung 4.2.1888

4)  Rigasche Zeitung 21. 1.1878,  Düna-Zeitung 9. 2 1888

5)  Rigasche Zeitung 15. 12.1847

6)  Rigasche Rundschau 23. 7.1926

7)  Rigasche Rundschau 8.10.1907

8)  Libausche Zeitung 15.2.1877

9)  Libausche Zeitung 16.2.1885

10) Libausche Zeitung 17.6.1889

11) Düna-Zeitung 27.5.1896

12) Düna-Zeitung 26.5.1907

13) Libausche Zeitung 17.4.1892

14) Rigasche Rundschau 15.5.1895

15) Rigasche Rundschau 13.12.1899

16) Düna-Zeitung 18.4.1897

17) Rigasche Zeitung 8.2.1865

18) Rigasche Zeitung 24.8.1877

19) Rigasche Zeitung 3.12.1857

20) Düna-Zeitung 31.8.1899

21) Rigasche Stadtblätter 14.9.1867

22) Libausche Zeitung 6.8.1880

23) Rigasche Rundschau 2.4.1907

24) Rigasche Zeitung 4.8.1884

25) Rigasche Zeitung 25.7.1875

26) Düna-Zeitung 17.7.1908

27) Rigasche Zeitung 29.1.1861

28) Rigasche Rundschau 17.12.1900

29) Rigasche Zeitung 8.1.1908

30) Rigasche Zeitung 8.11.1847, 15.1.1848, 16.1.1848; Libausche Zeitung 3.2.1866,

      Rigasche Zeitung 22.3.1866, 24.7.1880, Düna-Zeitung 18.9.1895

31) M.-P. Verrollot, Du Choléra-morbus en 1845, 1846 et 1847, avec une carte indiquant sa marche

      pendant  ces trois années, Constantinople 1849,  S. 139

32) Rigasche Zeitung 30.10.1869, 30.3.1870, 30.10.1870

33) Düna-Zeitung 4.4.1892

34) Libausche Zeitung 16.12.1891

35) Libausche Zeitung 21.10.1893

36) Libausche Zeitung 17.7.1871

37) Rigasche Zeitung 31.8.1884

38) Libausche Zeitung 10.6.1867

39) Düna-Zeitung 27.10.1908

40) Rigasche Zeitung 8.3.1886

41) Rigasche Rundschau 26.4.1903

42) Düna-Zeitung 1.12.1890

43) Libausche Zeitung 28.2.1891

44) Düna-Zeitung 14.3.1909

45) Libausche Zeitung 24.10.1886

46) Rigasches Amtsblatt 6.5.1889

47) Düna-Zeitung 15.3.1906

48) Baltische Monatsschrift 53. Jg. 1911, S. 14-30, 110-121

49) Rigasche Zeitung 30.3.1883

50) Düna-Zeitung 1.3.1907,   21.5.1908, 

51) Rigasche Zeitung 18.7.1915, 30.7.1915;  Libausche Zeitung 28.9.1915, 26.2.1916, 29.2.1916

52) Rigasche Zeitung 14.2.1915

53) Libausche Zeitung 12.4.1916

54) Libausche Zeitung 10.4.1916, Rigasche Zeitung 9.4.1915

55) Rigasche Rundschau 5.3.1926, 28.5.1927

56) Feldzeitung 6.1.1942

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Fotos:

Poststation: Gemälde von Franz Roubaud (1856 - 1928),

Karte:  bearbeiteter Ausschnitt aus einer historischen Spielkarte, undatiert,

übrige Fotos privat

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letzte Änderung: 05.03.2021