Abschrift:  Axel  von Gernet (1865 - 1920)*

Die Geschichte der Allerhöchst bestätigten Unterstützungskasse

für Evangelisch-Lutherische Gemeinden in Russland

St.  Petersburg 1909, S. 129 - 140

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[Wolhynien gehörte zu jener Zeit zum Konsistorialbezirk Kiew, der außerdem die Kirchspiele der Gouvernements Tschernigow, Poltawa und Podolien umfasste.]

 

„Wolhynien ist ein Land, in welchem sich für unsere Unterstützungs-Kasse ein ganz besonders umfangreiches Tätigkeitsgebiet ausgebildet hat. Die Ursache liegt in den besonderen Bevölkerungsverhältnissen, speziell in dem eigenartigen Charakter der deutschen Einwanderung, welcher auf dem Gebiete der Kirche und der Schule Verhältnisse geschaffen hat, die zu den größten Notständen führen mußten. Wir haben in Rußland vier große deutsche Koloniengebiete: die Kolonien um St. Petersburg, die Kolonien in Südrußland, die Kolonien an der Wolga mit ihren Ausläufern nach dem Kaukasus und nach Sibirien, und die Kolonien in Westrußland. In diesem letzteren Gebiete nimmt Wolhynien den ersten Platz ein. Die deutsche Einwanderung in Wolhynien trägt aber nun einen wesentlich anderen Charakter, als die Einwanderung in Nord- und Südrußland und an der Wolga. Während in diesen Gebieten die deutschen Ackerbauer von der Krone herangezogen und mit Land dotiert wurden und somit, von einer festen Basis ausgehend, ihr Kirchen- und Schulwesen ordnen und ihren Grundbesitz erweitern konnten, trägt die Einwanderung in Wolhynien einen spontanen Charakter. Im Grunde ist sie das Werk persönlicher Initiative der Einwanderer. Die staatliche Hülfe hat hier gefehlt. Aus eigener Kraft haben sich die Deutschen hier die Grundlagen für ihre wirtschaftliche Existenz legen müssen, und im schweren Kampf um das tägliche Brot fehlten ihnen die Mittel zu einer Ordnung des Kirchen- und Schulwesens in der Weise, wie dieses in den übrigen Koloniengebieten möglich gewesen ist. Dazu kommen dann noch andere Umstände, die eine günstige Entwickelung des Schulwesens gerade in Wolhynien aufhielten. Der Charakter der Einwanderung führte dazu, daß sich die Deutschen hier meist nur in kleinen Ansiedelungen, dort wo sich ihrer Tätigkeit freier Spielraum eröffnete, niederließen.

So finden wir denn heute in Wolhynien eine unzählige Menge kleiner deutscher Ansiedelungen, die über den größten Teil  des Gouvernements verteilt sind. Dieser Umstand erschwert aber nun wesentlich die geistliche Bedienung der Kolonisten und die Organisation eines guten Schulwesens. Dazu kommt dann die starke natürliche Vermehrung der Deutschen: fruchtbar wie der Boden in Wolhynien ist die Ehe des deutschen Kolonisten daselbst, und es gehörten die größten Anstrengungen dazu, um in der Entwickelung des Kirchen- und Schulwesens mit der natürlichen Zunahme der Bevölkerung Schritt zu halten. Der dritte Umstand, der in nachteiliger Weise auf die Ausgestaltung des Kirchen- und Schulwesens in Wolhynien einwirkt, ist in den politischen Verhältnissen in unserem Westgebiet zu suchen. Im Jahre 1884 wurden die deutschen Kolonisten daselbst hinsichtlich des von Grund und Boden den Polen gleichgestellt, d.h. es wurde ihnen verboten Land zu Eigentum zu erwerben. Wer bis dahin nicht besitzlich geworden, war jetzt nur auf Pachtungen angewiesen und zwar meist unter den schwierigsten Verhältnissen. Die Verpächter waren meist polnische Gutsbesitzer, die es vorzogen, kurzfristige Pachtkontrakte abzuschließen. Dieser Umstand gab einem teile der ackerbautreibenden deutschen Bevölkerung einen mehr oder weniger fluktuierenden Charakter, der sich, wie auf allen anderen Gebieten, so auch auf dem Gebiete des Kirchen- und Schulwesens in nachteiligster Weise geltend machte. Ja noch mehr. Als das erwähnte Gesetz von 1884 erschien, hatten zahlreiche Deutsche, welche Land zu Eigen erworben, ihre Kontrakte aus Sparsamkeitsgründen noch nicht korroboriert und gingen daher ihrer Eigentumsrechte verlustig. Und als nach der Revolution vom Jahre 1905 die Reichs-Bauernagrarbank mit dem Ankauf von Apanage- und Privatgütern und mit dem Parzellieren derselben, behufs Verteilung an landlose und landarme Bauern begann, verloren zahlreiche Deutsche ihre Pachtländereien. Wir stehen gegenwärtig mitten in diesen Verhältnissen und können nicht absehen, wozu sie führen werden. Jedenfalls macht sich schon jetzt in Wolhynien eine starke Auswanderungsbewegung geltend, welche das mit großer Mühe und schweren Opfern geschaffene Kirchen- und Schulwesen in empfindlicher Weise zu gefährden droht.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Zahl der Deutschen im Gouvernement Wolhynien eine sehr geringe. Wohl die ältesten gegenwärtig bestehenden Kolonien sind Annette und Josephine bei der Stadt Nowograd-Wolynsk, die im Jahre 1816 gegründet worden sind.

Die polnische Revolution von 1831 brachte die Einwanderung in Fluß. Deutsche Kolonisten aus Polen suchten in Wolhynien eine ruhige Arbeitsstätte. Vollends massenhaft wurde ihre Einwanderung seit der zweiten Revolution im Jahre 1863. Eine starke Wanderlust ergriff die Deutschen Polens, zumal die Aufhebung der Leibeigenschaft die Bodenpreise in Wolhynien stark herabgedrückt hatten. Den Einwanderern aus Polen folgten solche aus Preußen und Galizien. Während im Jahre 1839 in Wolhynien nur 1200 und im Jahre 1859 nur 4825 Lutheraner gezählt wurden, war ihre Zahl bis zum Jahre 1883 nach kirchlicher Schätzung auf mehr als 75 000 gestiegen und wird gegenwärtig auf gegen 200 000 geschätzt. Dabei ist zu beachten, daß die Zunahme in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich auf natürlichen Zuwachs zurückzuführen ist.

Mit dieser starken Vermehrung der deutsch-lutherischen Bevölkerung konnte das Kirchen- und Schulwesen nur schwer Schritt halten. Unserer Unterstützungs-Kasse aber ist es vorbehalten gewesen, die Arbeit der kirchlichen Organe in nachhaltigster Weise zu fördern.

Wolhynien besaß lange nur eine einzige Pfarre. Im Jahre 1801 wurde ein Gouvernementspastor für ganz Wolhynien in Shitomir mit Zuweisung eines Kronsgehalts eingesetzt. Lange Jahre hindurch genügte die Kraft des einen Mannes, mochte er auch Hunderte von Wersten zurücklegen, um seine Eingepfarrten insgesamt ein Mal im Jahre aufzusuchen. Im Jahre 1862 stellte das Petersburger Konsistorium für das Gouvernement Wolhynien einen Vikarprediger an, dem die geistliche Bedienung der entfernteren westlichen Kreise überwiesen wurde. Da das Kirchenwesen hier erst zu organisieren war, war diese Anstellung ohne Beihilfe der Unterstützungs-Kasse nicht möglich. Das Zentral-Komitee bewilligte dem Vikar 100 Rbl. Gehalt und 300 Rbl. Fahrgelder. Im Jahre 1864 sah sich dann das Konsistorium veranlaßt, einen zweiten Vikar- und Reiseprediger für das Gouvernement Wolhynien, in Shitomir selbst, zu stationieren, während der erste Vikar seinen Wohnsitz in Roshischtsche nahm. Diese Anstellung war um so notwendiger als, wie wir gesehen haben, die polnische Revolution gerade damals einen starken Strom deutscher Kolonisten ins Land gebracht hatte.

Im Jahre 1863 wurde der westliche Teil des Gouvernements Wolhynien mit dem Pfarrsitz Roshischtsche als selbständiges Kirchspiel von Shitomir abgeteilt. Bis zur Konsolidierung der kirchlichen Verhältnisse in diesem Kirchspiel bewilligte das Zentral-Komitee dem Pastor eine Gehaltszulage von 257 Rbl., die bis zum Jahre 1871 gezahlt worden ist, während das Gehalt des Pfarrvikars anfänglich wechselte: von 1864 bis zum Jahre 1868, in welchem das Amt, wie wir weiter unten sehen werden, aufgehoben wurde, sind dem Vikar daselbst im Ganzen 2250 Rbl. gezahlt worden.  

Nach der Abteilung von Roshischtsche wurde die Gründung eines dritten Kirchspiels in Wolhynien in Aussicht genommen, und zwar mit dem Pfarrsitz in der Kolonie Heimtal (Staraja Buda). Schon um die Mitte der sechziger Jahre zählte die Bethausgemeinde in Heimtal 4000 Seelen. Die Gründung der neuen Pfarre wurde dadurch ermöglicht, daß die Kolonie aus eigenen Mitteln ein Pastorat erbaute und Land zur Dotierung der Pfarre hergab. Im Jahre 1868 wurde dann das Kirchspiel Heimtal konstituiert und das oben behandelte Vikariat aufgehoben. Jetzt galt es hier eine eigene Kirche zu erbauen, da das Bethaus die Gemeinde nicht mehr zu fassen vermochte. Dieser Bau wurde aber nicht allein durch die Armut der Eingepfarrten, sondern auch durch die gestiegenen Preise der Baumaterialien sehr erschwert und erst ermöglicht, nachdem das zentral-Komitee zu diesem Zwecke 3000 Rbl. bewilligt hatte. Nachdem dann im Jahre 1870 der erste Pastor zu Heimtal angestellt worden war, bewilligte ihm das Zentral-Komitee eine Gehaltszulage, die bis zum Jahre 1876 gezahlt wurde und 200 Rbl. betrug.

In den Jahren 1875 – 1876 wurde auch in Roshischtsche eine Kirche erbaut. Zu diesem Werke bewilligte das Zentral-Komitee 1500 Rbl.

Diese drei Pfarren, Shitomir, Roshischtsche und Heimtal, mußten nun durch zwei Jahrzehnte für die geistliche Bedienung der lutherischen Deutschen Wolhyniens genügen.  Die nächsten Pfarrteilungen beginnen zu Ausgang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Schon in den Jahren 1884 und 1885 zahlte das Zentral-Komitee 600 Rbl. jährlich zur Anstellung eines Adjunkten beim Pastor zu Shitomir behufs Bedienung des Kreises Rowno und Organisation desselben zu einem neuen Kirchspiel. Im Dezember 1887 wies das Mitglied des Zentral-Komites Pastor Pingoud auf einer Sitzung desselben auf die kirchlichen Notstände in Wolhynien hin und beantragte dem Konsistorium jährlich eine gewisse Summe zur Anstellung von Adjunkten anzubieten.

Die lutherische Bevölkerung in Wolhynien wurde damals auf 80 000 Seelen geschätzt; davon entfielen auf das Kirchspiel Shitomir 38 000, auf Roshischtsche 28 000 und auf Heimtal 14 000. Das waren tatsächlich unhaltbare Verhältnisse. Das Zentral-Komitee ging daher bereitwilligst auf den Antrag ein und das St. Petersburgische Konsistorium folgte der Anregung, indem es beschloß, die Teilung der dortigen Kirchspiele vorzubereiten. Das Konsistorium beabsichtigte zunächst, dem Pastor zu Shitomir und vielleicht auch gleichzeitig demjenigen von Roshischtsche, je nachdem sich die Verhältnisse gestalten würden, einen Adjunkten beizugeben mit der Aufgabe, die Bildung neuer Kirchspiele durch Abzweigung von Teilen der bestehenden anzubahnen; zu diesem Behufe sollten sie im Auftrag des betreffenden Pastors diejenigen Gemeinden, aus welchen die neuzukonstituierenden Kirchspiele gebildet werden sollten, von der Notwendigkeit der Teilung überzeugen und zur Übernahme bestimmter Leistungen zu diesem Zwecke zu bewegen suchen. Das Zentral-Komitee stellte zu diesem Zweck dem Konsistorium 1200 Rbl. zur Verfügung. Aus diesen Mitteln wurden noch im Jahre 1888 ein Pastor-Adjunkt für das Kirchspiel Shitomir in Tutschin und ein zweiter für das Kirchspiel Roshischtsche in Wladimir-Wolynsk angestellt.

Im Jahre 1889 wurde sodann in Nowograd-Wolynsk ein Adjunkt des Pastors zu Shitomir für die in den Kreisen Nowograd-Wolynsk und Saslaw angesiedelten ca. 10 000 Lutheraner ernannt, dem das Zentral-Komitee eine Gehaltszulage von 600 Rbl. und 400 Rbl. Wohnungsgelder bewilligte. Auch die Aufgabe dieses Adjunkten sollte darin bestehen, die Bildung eines eigenen Kirchspiels vorzubereiten.

Im Jahre 1891 schließlich bewilligte das Zentral-Komitee zur Gründung einer Adjunktur für den Kreis Wladimir-Wolynsk, der mit seinen 12 000 Lutheranern bisher von Roshischtsche aus bedient worden war, 1000 Rbl. jährlich. so entstanden in drei Jahren drei selbständige Adjunkturen: in Tutschin für den Kreis Rowno, in Nowograd-Wolynsk für die Kreise Nowograd-Wolynsk und Saslaw und in Wladimir-Wolynsk für den gleichnamigen Kreis.  Die politischen Verhältnisse haben es veranlaßt, daß diese ständigen Adjunkturen noch nicht zu selbständigen Kirchspielen erhoben worden sind. Von den Predigern der genannten Adjunkturen haben derjenige zu Nowograd-Wolynsk bis zum Jahre 1892 und derjenige von Wladimir-Wolynsk bis 1897 die Gehaltszulage des Zentral-Komites genossen. Mittlerweile waren die Adjunkturen soweit erstarkt, daß sie der Beihilfe der Unterstützungs-Kasse nicht mehr bedurften.

Im Jahre 1896 fand eine weitere Pfarrteilung in Wolhynien statt. In diesem Jahre wurde aus dem Kirchspiel Heimtal, welches über 20 000 Eingepfarrte in 110 Ortschaften zählte, ein Gebiet mit 5000 Seelen ausgeschieden und einem ständigen Adjunkten mit dem Sitz in Emiltschin überwiesen. Diesem Adjunkten bewilligte das Zentral-Komitee für das erste Jahr 800 Rbl. und für zwei weitere Jahre 500 Rbl. und das Bezirks-Komite 200 Rbl.  Diese Bewilligungen sind später bis zum Jahre 1906 erneuert worden. 

An der Gründung der ständigen Adjunktur Lutzk, welche im Jahr 1899 von Roshischtsche abgetrennt wurde, hat sich die Unterstützungs-Kasse nicht beteiligt, wohl aber an der Gründung der jüngsten Adjunktur Rowno, die im Jahre 1902 vom Kirchspiel Shitomir abgeteilt und für die Kreise Ostrog, Dubno und Kremenez konstituiert wurde. Dem Adjunkten in Rowno zahlte das Zentral-Komitee bisher 600 Rbl. Gehaltszulage. Rowno ist jetzt selbständiges Kirchspiel.

Somit sind während des 50jährigen Bestehens der Unterstützungs-Kasse und, mit einer einzigen Ausnahme auch mit Hilfe derselben, in Wolhynien 8 neue Pfarren entstanden.  Die Beihilfe der Unterstützungs-Kasse beschränkte sich dabei aber nicht auf die Gewährung von Gehaltszulagen an die Prediger, sondern griff auch tiefer in das Leben der jungen Kirchspiele ein und zwar durch Gewährung von Unterstützungen zum Pfarr- und Bethausbau. Eigene Kirchen haben sich die jungen Gemeinden bis auf Lutzk noch nicht erbauen können. Dabei sei vorausgeschickt, daß auch das Mutterkirchspiel Shitomir bei solchen Bauten durch unsere Kasse unterstützt worden ist. Als im Jahre 1895 die jetzige Kirche daselbst erbaut wurde, erteilte das Bezirks-Komitee zu diesem Zweck der Gemeinde ein Darlehn von 2000 Rbl. Von den jungen Gemeinden haben Nowograd-Wolynsk, Wladimir-Wolynsk und Tutschin aus der Unterstützungs-Kasse Subsidien zur Gründung von Pastoraten erhalten. Anfänglich lebten die Adjunkten hier in Mietwohnungen; doch der Wohnungsmangel bzw. die teuren Mieten, sowie die Notwendigkeit Räumlichkeiten zu schaffen, in welchen die Konfirmanden aus den zum Teil abgelegenen Ortschaften für einige Wochen untergebracht werden konnten, machte es notwendig, eigene Pastorate zu schaffen. Im Jahre 1895 kaufe die Gemeinde Nowograd-Wolynsk ein passendes Haus; das Zentral-Komitee gab dazu aus der Luther-Stiftung 2000 Rbl. und das Bezirks-Komitee im Ganzen 1000 Rbl., davon 702 Rbl. aus Spezialabgaben und den Rest als Darlehn. Im Jahre 1897 baute die Gemeinde Wladimir-Wolynsk ein Pastorat, zu welchem Zweck das Bezirks-Komitee ein Darlehn von 1000 Rbl. erteilte, und im Jahre 1896 auch die Gemeinde Tutschin, welche vom Zentral-Komitee ein Darlehn von 600 Rbl. erhielt. Ferner sind hier noch drei Bethausbauten an Pfarrorten zu erwähnen, die von der Unterstützungs-Kasse gefördert worden sind. Es sind dieses die Bethäuser zu Emiltschin (1905), zu dessen Erbauung das Bezirks-Komitee 1000 Rbl. hergab, zu Wladimir-Wolynsk (1906) und zu Roshischtsche (1900). Schließlich gab das Bezirks-Komitee 1892 zum Bau eines Küsterats in Heimtal 600 Rbl.

Ein großes Tätigkeitsgebiet eröffnete sich der Unterstützungs-Kasse in der Förderung und Ausgestaltung des Schulwesens in Wolhynien. Die oben geschilderten Verhältnisse, die schwierige wirtschaftliche Lage der deutschen Kolonisten in Wolhynien und die geringe Größe der einzelnen Ansiedelungen führte dazu, daß sich das Schulwesen in recht ungünstiger Weise entwickelte. Allerdings muß den Deutschen Wolhyniens der Ruhm gelassen werden, daß sie nach Kräften für ihr Schulwesen Sorge getragen haben. doch die Schulen, die sie gründeten, waren klein, die Gehalte, die sie ihren Küsterlehrern, Kantoren genannt, zahlen konnten, ninim, oft nur 50 Rbl. die Schullokale äußerst dürftig.  Das Schlimmste aber war, daß sich der Lehrerstand infolge der geringen Besoldung auf dem denkbar niedrigsten Niveau hielt. Das alles hatte zur Folge, daß sowohl die allgemeine, als auch die religiöse Bildung der Wolhynischen Kolonisten sich bis auf den heutigen Tag auf einer recht niedrigen Stufe erhalten hat.

Hier galt es der in der Unterstützungs-Kasse konzentrierten Liebestätigkeit der evangelischen Kirche helfend einzugreifen. Diese Tätigkeit ist nach drei Richtungen hin zur Geltung gekommen: in einer Beihilfe bei der Erbauung von Schul- und Bethäusern, in der Gewährung von Gehaltszulagen an die Küsterlehrer der ärmsten Gemeinden und schließlich in der Begründung einer den Verhältnissen in Wolhynien angepaßten Anstalt zur Ausbildung von Küsterlehrern.

Es würde zu weit führen, hier die einzelnen Bet- und Schulhausbauten eingehender zu behandeln. Die Motivierung der Unterstützungsgesuche ist immer ein und dieselbe: die Gemeinde braucht ein  Schul- und Bethaus, ist aber zu klein und zu arm, um es allein aus eigenen Mitteln zu errichten. wir beschränken uns darauf, die einzelnen Bauten bzw. Umbauten in chronologischer Reihenfolge, nach den drei alten Kirchspielen Shitomir, Roshischtsche und Heimtal geordnet, aufzuzählen. die meisten Bauten sind vom Bezirks-Komitee unterstützt worden. Unsere Kasse hat folgende Bet- und Schulhausbauten gefördert:

  • in den Grenzen des alten Kirchspiels Shitomir in den Gemeinden Gnadental, Blumental, Grünwald, Kasmatschow, Rowno, Nataliendorf, Kamenka, Shelesniza, Januwka, Werben, Grüntal, Wodsikow und Dubna,
  • in den Grenzen des alten Kirchspiels Roshischtsche in den Gemeinden Alexandrowo, Haradsche, Samost-Werba und Dubniki-Julewitschi,
  • und schließlich in den Grenzen des alten Kirchspiels Heimtal in den Gemeinden Alexandria, Roguska, Janufka, Tultschin, Marianofka, Neukrausendorf, Elisabethpol, Nowo-Alexandrowsk, Appollonia-Babje und Margaretofka.

Die Unterstützungen, die unsere Kasse zur Unterhaltung der Schulen, in Gestalt von Gehaltszulagen an die Küsterlehrer, gezahlt hat, haben sich in Folge der oben geschilderten Verhältnissen im einzelnen in bescheidenen Grenzen gehalten, auch wenn die Zahl der unterstützten Gemeinden eine recht bedeutende ist.

Es würde zu weit führen, hier die unterstützten Gemeinden aufzuführen. wir beschränken uns darauf, nur eines eigenartigen Institutes zu erwähnen, das in einzelnen Teilen Wolhyniens durch Jahre, zum Teil mit Hilfe der Unterstützungs-Kasse, unterhalten worden ist. Es ist das Institut der Wanderlehrer. Die Arbeit des Wanderlehrers galt in gewissen Teilen Wolhyniens noch vor wenigen Jahren für unentbehrlich und trat über die Grenzen des Namens weit hinaus. Der Wanderlehrer hatte nicht nur in Ermangelung eines Lehrers für einen solchen einzutreten, sondern auch bei der Organisation und Verwaltung der Schulen im Auftrag des Pastors behilflich zu sein. Er wurde namentlich in solche Ortschaften gesandt, die von der Reiseroute des Pastors zu sehr abgelegen waren: hier hatte der Lehrer zu instruieren, die Schulen zu inspizieren, Streitigkeiten zwischen Lehrern und Gemeinden zu untersuchen  und darüber Bericht zu erstatten, die Gehaltsfrage anzuregen und zu lösen u.s.w. Außerdem wurde der Wanderlehrer, welcher eine umfassendere und gründlichere Kenntnis unserer Kirche besitzen mußte, als die Küsterlehrer, vom Pastor in solche Gemeinden gesandt, wo der Baptismus, die Unwissenheit der Bauern benutzend, einzudringen versuchte. Im Jahre 1878 wurde in Roshischtsche der erste Wanderlehrer angestellt. Dieses war nur möglich, indem das Zentral-Komitee zu seiner Besoldung 300 Rbl. jährlich bewilligte. Diese Unterstützung ist bis zum Jahre 1890 gezahlt worden. Im Kirchspiel Shitomir wurde im Jahre 1887 ein Wanderlehrer für die Masurischen Kolonien angestellt, die vom Pastor nur schwer bedient werden konnten. Die Unterstützungs-Kasse zahlte hier von 1887 – 1891 200 Rbl. jährlich. Und schließlich hat sie dem Wanderlehrer in Heimtal im Jahre 1891 eine Unterstützung von 300 Rbl. gewährt.

Schließlich haben wir hier noch die Gründung der Wolhynischen Küsterschule zu behandeln. Das Bildungsniveau der Wolhynischen Kantoren ist, wie hervorgehoben worden, ein sehr niedriges. Und doch sind diese Kantoren nicht nur Lehrer, sondern in Abwesenheit des Pastors auch Vertreter der geistlichen Autorität im Dorf und damit vielfach religiös tätig. Nun hatten sich auf diesem Gebiet im Laufe der Zeit, wie wir gesehen, Notstände herausgebildet, die auf die Dauer unhaltbar waren. Da im Hinblick auf die gekennzeichnete Bedeutung der Küsterlehrer ihre Ausbildung eine ebenso wichtige Aufgabe der Kirche ist, wie die Ausbildung der Pastoren, so sahen sich die kirchlichen Autoritäten gezwungen, an eine Beseitigung dieses Notstandes zu denken. Es wurde die Gründung eines Küsterlehrerseminars und zwar nicht nur für Wolhynien, sondern auch für die benachbarten Gouvernements Podolien, Kiew und Tschernigow in Aussicht genommen. Unserer Unterstützungs-Kasse aber war es vorbehalten, dieses Unternehmen durch seine Beihilfe ins Leben zu rufen. Schon im Jahre 1897 beantragte Generalsuperintendent Pingoud beim Zentral-Komitee, zum Bau eines Küsterlehrerseminars in Heimtal (Staraja-Buda) 14 000 Rbl. aus der Lutherstiftung und zum Unterhalt desselben, ebenso wie für das finnische Lehrerseminar zu Kolpana, 3000 Rbl. jährlich zu bewilligen. Das Zentral-Komitee gewährte die erbetenen Summen, doch hat sich die Ausführung des Planes in Folge der politischen Verhältnisse durch Jahre hingezogen, und schließlich musste die ursprüngliche Idee nicht unwesentlich eingeschränkt werden. Der Plan eines Seminars wurde aufgegeben und der Regierung das Projekt einer zweiklassigen Küsterschule in Anlehnung an die in Heimtal bestehende Ministeriumsschule vorgestellt. Dieses Statut erhielt mit einigen Modifikationen im Jahre 1904 die Bestätigung des Ministers. Im Herbst desselben Jahres begann der Unterricht in einem provisorischen Lokal, dessen Erbauung 2000 Rbl. kostete. Gleichzeitig aber wurde mit dem Bau eines großen Schulhauses begonnen, der im Jahre 1906 beendet wurde.  Die vom Zentral-Komitee bewilligten Mittel genügten nicht. Das Bezirks-Komitee gab weitere 2000 Rbl. als Darlehn, das Zentral-Komitee  1500 Rbl. aus den allgemeinen Mitteln und 1558 Rbl. 66 Kop. aus Spezialabgaben.  Da nun der Minister gestattet hatte, in den vier Gouvernements, für welche die Schule gegründet ist, ein Mal jährlich eine Kollekte zum Besten dieser Schule zu veranstalten, so ist mit Bestimmtheit zu hoffen, daß diese so notwendige Anstalt unserer Kirche erhalten bleiben und in Segen wirken wird.  In dieser Anstalt wird, direkt aus den Bedürfnissen der Wolhynischen Gemeinden heraus, ein neuer Typus von Landküstern geschaffen, deren Bildung den geringeren Ansprüchen des Gebietes angepaßt ist. Mit dieser Schule hat das Zentral-Komitee eine zweite Anstalt zur Ausbildung von Lehrern geschaffen. Die erste Anstalt dieser Art war das finnische Lehrerseminar in Kolpana, die nächste dürfte für die deutschen Wolgakolonien gegründet werden. (…)“

 

 

Links: 

http://wiki.wolhynien.net/index.php/Evangelisch-lutherisches_Kirchspiel_Shitomir

http://wiki.wolhynien.net/index.php/Evangelisch-augsburgisches_Kirchspiel_Roshischtsche

http://wiki.wolhynien.net/index.php/Evangelisch-lutherisches_Kirchspiel_Wladimir-Wolynsk

http://wiki.wolhynien.net/index.php/Evangelisch-lutherisches_Kirchspiel_Luzk

http://wiki.wolhynien.net/index.php/Evangelisch-lutherisches_Kirchspiel_Nowograd-Wolynsk

 

Karte zu Auswanderungen nach  Russland im 19. Jahrhundert: 

http://www.bund-der-vertriebenen-hessen.de/page_versch2013_14.html

 

* gemeinfrei gem. § 64 UrhG; Irrtum der Abschrift vorbehalten;

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Gesamtpublikation digital: Russische Staatsbibliothek   http://dlib.rsl.ru/viewer/01004456482#?page=1