Rudolf Bächtold


Südwestrußland im Spätmittelalter (Territoriale, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse)

Basel 1951 (Helbing & Lichtenhahn)


- Abdruck eines Auszugs mit freundlicher Genehmigung des Verlages* -    

Rechtschreibung der Vorlage übernommen; Irrtum der Abschrift vorbehalten;  Illustrationen als eigene Ergänzung


W O L H Y N I E N


Wolhynien unter Svidrigaila und die wolhynische Autonomie


(…) das zweite Viertel des 15. Jahrhunderts, in welchem das polnisch gewordene Rotrußland einen so entscheidenden Schritt tat, wie die Einführung des polnischen Rechts, ist auch für Wolhynien sehr bedeutend geworden. Freilich in einem ganz andern Sinn. Denn die beiden Länder, die keine hundert Jahre zuvor noch in einem Staatsverband, in derselben Entwicklung gestanden hatten, sahen sich nun dadurch, daß sie an zwei verschiedene Mächte gefallen waren, in ganz auseinandergehende Entwicklungsbahnen gedrängt. Während Galizien 1434/35 einen wesentlichen Schritt tat, um fremde Formen anzunehmen, sein eigenes Gepräge zu verwischen, wirkte das gleichzeitige historische Schicksal Wolhyniens dahin, aus dieser Provinz eine sehr ausgeprägte Landespersönlichkeit zu machen. Der angedeutete wichtige Faktor in der Geschichte Wolhyniens ist das Teilfürstentum Svidrigailas.


Diesen Svidrigaila Olgerdovič, Bruder des Ladislaus Jagello und somit Vetter Witolds, haben wir auch schon erwähnt, – er ist schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts hervorgetreten. Seit damals und bis gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts hin kämpfte er an gegen die in Litauen bestehende Ordnung der Dinge, gegen die ihn zur Seite schiebende Teilung der Macht unter die beiden Stärksten der lebenden Generation des großfürstlichen Geschlechts, die Witold die zentrale, unmittelbare Herrschaft, Jagello die Oberhoheitsrechte gab. Uns interessiert hier die Stellung Svidrigailas als Teilfürst von Wolhynien, aber um zu verstehen, wie er zu dieser Stellung kam und was sie für ihn und für das Land bedeutete, müssen wir uns die Hauptzüge seines bisherigen Lebens vergegenwärtigen.


Schon als zwanzigjähriger Jüngling geriet er das erstemal mit Witold und Ladislaus Jagello in Konflikt, als er sich gegen deren Willen in Vitebsk festsetzen wollte. Man muß sich erinnern, daß Olgerd, lange bevor er nach dem Tode seines Vaters Gedimin Wilna bekam. als Prinzgemahl und dann als Fürst in Vitebsk residierte und daß Vitebsk immer eine Hauptstütze seiner Macht blieb; diese urrussische Stadt war damit zu einer der Hauptstädte des litauischen Reiches und speziell des "Vatererbes der Olgerdoviči", zu einer Sprosse beim Aufstieg nach Wilna und dem Großfürstentum gestempelt. In diesem Sinne wollte Svidrigaila die Stadt damals besetzen: da Jagello (Olgerdovič) einmal außer Landes, in Polen war, so schien ihm nicht Witold (Kjestutovič) berechtigt, in Wilna zu sitzen und über Vitebsk zu verfügen, sondern nur ein Sohn Olgerds, also er selbst. Er wurde aber durch Witold vertrieben und floh, wie gewöhnlich die Vertreter der litauischen Familienopposition, zum Deutschen Orden. Von da holte man ihn etwa 1397 "im Guten" zurück und gab ihm allerlei Güter und Einkünfte in Rotrußland und Podolien, aber "sie beruhigten nicht den unbeständigen Geist dieses bösen Menschen".[1] Etwas später ertrotzte er sich ein bedeutendes severisches Fürstentum: Brjansk, Novgorod-Seversk, Cernigov. Von da trat er im Zusammenhang des "Ugra-Krieges" etwa 1406 mit einem ganzen Gefolge anderer Malkontenter auf Moskauer Seite hinüber und "fing wieder an, mit Moskau zusammen viel Übel zuzufügen dem litauischen Land und Rußland [= Westrußland]"[2]. Er geriet aber dann in Gefangenschaft seines Vetters und wurde 1409 bis 1418 in Wilna und Kremenec gefangen gehalten; schließlich befreiten ihn Anhänger, er söhnte sich mit Witold und Jagello aus und erhielt seine genannten Besitzungen wieder zurück. So war also im Moment von Witolds Tode Svidrigaila einer der bedeutendsten litauischen Teilfürsten.

[1] Gust, S. 325

[2] Gust, S. 325


Die Kette von Ereignissen, die mit dem Tode Witolds zusammenhängt, gehört der großen polnisch-litauischen, ja sogar europäischen Geschichte an; aber der große Kongreß in Luck, den Witold in seinem letzten Lebensjahr abhielt und auf dem er mit Kaiser Siegmund – unter Assistenz vieler anderer hoher Herren – über eine litauische Königskrone verhandelte, zeigt zugleich, was für eine bedeutende Rolle Wolhynien im Rahmen des litauischen Reiches spielte.  Als Witold 1430 gestorben war, wurde zunächst unter voller Zustimmung Latislaus Jagellos Svidrigaila zum litauischen Großfürsten gewählt – aber gleich darauf mußte Jagello unter dem Druck seines Rates, seiner kleinpolnischen Oligarchie, seine Stellung ändern und gegen seinen Bruder zu Felde ziehen. Es war auch hier Luck, das man zum Ziel des Feldzuges wählte.  Dies bedeutet nicht nur wiederum eine Anerkennung Wolhyniens und der Stadt Luck als eines der wichtigsten Zentren des litauischen Reiches, sondern es stecken hierin auch besondere kleinpolnische territoriale Erwägungen, auf die wir gleich zurückkommen werden. Der Feldzug blieb ergebnislos; außer daß er, mit ziemlicher Erbitterung und zum Teil (beidseitig) mit dem Charakter eines Konfessionskrieges geführt, den wolhynischen Eigenständigkeitswillen stärkte.

Mit der Wahl des Sigismund Kejstutovič zum litauischen Großfürsten in Wilna 1432 wurde Svidrigaila wieder das, was er ungefähr sein ganzes Leben lang gewesen war, ein Rebell, der den Titel eines Großfürsten nur angemaßterweise trug. Er wurde denn auch im weiteren Verlauf der 30er Jahre aus dem eigentlichen Litauen, aus Weißrußland, und schließlich aus Südwestrußland vertrieben – wiederum war es Wolhynien, Luck, das ihm am längsten verblieb und mit dessen Fall seine Sache entschieden war; er ging ins Karpathenland, entweder auf irgendwelche podolische oder pokutische Güter, oder ins moldawische Exil.


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Kartenausschnitt:  Polen-Litauen um 1570

https://curiosity.lib.harvard.edu/scanned-maps/catalog/44-990088480970203941


Portrait-Abbildungen gemeinfrei (wikimedia-commons)



Weiterführende Dokumente:

"Litauisches Statut" (Wolhynisches Statut) aus dem Jahr 1588 (handschriftl. Kopie)

https://www.wbc.poznan.pl/dlibra/publication/518411/edition/423487/content



Akten zur Geschichte Süd- und Westrusslands, gesammelt und veröffentlicht von der Archäographischen Kommission..., erschienen 1863-1892  (15 Bände)

http://elib.shpl.ru/ru/nodes/3657-akty-otnosyaschiesya-k-istorii-yuzhnoy-i-zapadnoy-rossii-sobrannye-i-izdannye-arheograficheskoy-komissiey-spb-1863-1892

Beispiel (panslawistisch-imperialistische Tendenz, mit drei Karten im Anhang):  

Документы, объясняющие историю Западно-Русского края и его отношения к России и к Польше.

Documents – servant à éclaircir l’histoire des proveinces occidentales da la Russie ainsi que leurs rapports avec la Russie et la Pologne.

(Dokumente zur Erhellung der Geschichte der westlichen Provinzen Russlands und ihrer Beziehungen zu Russland und Polen)

St. Petersburg 1865  (russ./poln./frz.)


http://elib.shpl.ru/ru/nodes/22973-dokumenty-obyasnyayuschie-istoriyu-zapadno-russkogo-kraya-i-ego-otnosheniya-k-rossii-i-k-polshe-spb-1865



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letzte Änderung: 19.04.2022