Frühe Kindheit im zaristischen Russland        (>>> ausführlicher Text zum Download - pdf 1,28 MB)

Die Kindersterblichkeit war im 19.  und frühen 20. Jahrhundert im russischen Zarenreich recht hoch. Verschiedene Statistiken zeigen Werte von mindestens 25% bis um 50%. In Bezug auf Findelkinder wird für die Jahre 1870 – 1872 berichtet, dass in Pflegefamilien auf dem Land von den unter sechs Wochen alten Kindern durchschnittlich 52 % starben, von den über sechs Wochen alten Kinder durchschnittlich 44 %.[1]  

Ein Blick in einzelne aus dem 19. Jahrhundert erhaltene Kirchenbücher der lutherischen deutschen Kolonisten in Wolhynien zeigt auf, dass die Säuglings- bzw. Kindersterblichkeit von dem oben beschriebenen Trend nicht wesentlich abweicht. Viele Säuglinge überlebten nur wenige Stunden oder Tage nach der Geburt aufgrund von „Schwäche“ oder „Krämpfen“. Kleinkinder erlagen oft den zahlreichen Infektionskrankheiten, gegen die im 19. Jahrhundert z.T. noch kein Medikament bzw. Impfstoff bekannt oder verfügbar war (Masern, Scharlach, Diphterie, Ruhr, Pocken, Keuchhusten, Typhus, Tuberkulose). Nicht selten verloren Eltern mehrere Kinder innerhalb weniger Wochen oder Monate durch hochansteckende Krankheiten, was nicht zuletzt den beengten räumlichen Verhältnissen zuzuschreiben ist, die eine Isolation Kranker kaum möglich machte. Vereinzelt wird auch „Weichselzopf“[2]  als Todesursache angegeben; die Feststellung von „Wassersucht“ bei Kleinkindern legt die Vermutung von Fehl- bzw. Mangelernährung nahe.

Der offiziellen Feststellung der Todesursachen bei Säuglingen und Kleinkindern in jener Zeit sollte auf jeden Fall mit Vorsicht begegnet werden, denn

„Bei der Sterblichkeitsstatistik ist im allgemeinen in Betracht zu ziehen, daß die Bescheinigung der Todesursache durch eine ärztlich gebildete Person wohl nirgends für eine ganze Bevölkerung durchgeführt ist, meist im Gegenteil die Angabe der Todesursache eine höchst unzuverlässige ist. In einem je früheren Lebensalter der Tod eintritt, um so schwerer ist es, eine zuverlässige Kenntnis von der Todesursache zu erhalten. Denn selbst da, wo eine obligatorische Leichenschau durch Sachverständige zu erfolgen hat, bleibt die wahre Todesursache oft unbekannt, weil gerade für das frühe Kindesalter eine ärztliche Behandlung verhältnismäßig selten in Anspruch genommen wird.“[3]

Ein Grund für die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit ist in damals noch häufigen Infektionskrankheiten zu sehen, deren Verbreitung in engen räumlichen Verhältnissen kaum zu vermeiden war (nicht jedes Kind hatte ein eigenes Bett). Das gilt z.B.  für Diphterie, Masern, Scharlach, Röteln, Pocken, Ruhr, Tuberkulose, Lungenentzündungen.[4] (Die Pocken-Impfung war ab dem Anfang des 19. Jahrhunderts im russischen Zarenreich bereits bekannt.)

Unzureichende Ernährungsgewohnheiten waren eine weitere Ursache für eine hohe Säuglings-sterblichkeit.[5] Häufig erhielten die Babies viel zu früh feste Nahrung, die für sie unverträglich war. Der Grund lag zum Teil wohl in der Abwesenheit der Mütter während ihres Einsatzes auf dem Hof: Russische Frauen verbrachten annähernd ebenso viele Arbeitsstunden bei der Landarbeit wie Männer, denn in es bestand die verbreitete Erwartung, dass eine Mutter die Sorge um das Kind nicht nutzen sollte als Entschuldigung, sich von sich von notwendigen Aufgaben in Hof und Feld zurückzuziehen. Nicht selten herrschte auch in bäuerlichen Familien die Auffassung, dass ein Säugling allein von Muttermilch nicht gedeihen konnte. Unklar ist, ob dahinter angesichts der ärmlichen Verhältnisse ein faktischer Mangel in der Stillfähigkeit der Mutter stand oder ob in vergleichender Übertragung die Vorstellung sättigenden Essens bei Erwachsenen zugrunde gelegt wurde. Ärzte warnten die Eltern vor der frühzeitigen festen Nahrung, bevor nicht das Verdauungssystem des Säuglings dies verarbeiten konnte (Ransel 1988, S. 270[6]).  Insbesondere im Sommer, wenn die Mutter zur Feldarbeit außer Haus war, wurden Säuglinge in der Obhut älterer Geschwister oder der Großmutter gelassen und damit auch - neben dem Risiko des Flüssigkeitsmangels - den für die warme Jahreszeit üblichen vermehrten Infektionsgefährdungen ausgesetzt. Die Säuglingssterblichkeit war daher im Sommer etwas höher als zu anderen Jahreszeiten (Ransel 1988, S. 271)

Ein interessantes Detail aus der Statistik ist die Feststellung, dass die Sterblichkeit bei Kindern in den verschiedenen Konfessionen in der Bevölkerung variierte: Unter den Orthodoxen lag sie höher als unter den Protestanten, Katholiken, Muslimen und Juden[7]. Ein möglicher Grund mag – neben den problematischen Ernährungsgewohnheiten - im strengen Taufritus (Untertauchen im eiskalten Wasser) und in der Kultur des vermeintlich notwendigen „Abhärtens“ von Kindern gelegen haben.[8]

Dass Kinder und Jugendliche im ländlich-bäuerlichen Umfeld anderen besonderen Gefahren ausgesetzt waren, belegen weitere der angegebene Todesursachen wie das Ertrinken in einem Bach, Teich oder Mühlengraben, Verbrennungen und Verbrühungen, das Erschlagen durch ein Pferd oder eine umstürzende Mauer; besonders tragisch sind Fälle wie der eines dreijährigen Kindes durch Verhungern nach Verirren im Wald oder die Ermordung eines Kindes durch den eigenen Bruder oder der gemeinsame Tod von fünf Geschwistern bei einer Feuersbrunst.  

Es ist zu bedenken, dass die ärztliche Versorgung in ländlichen Regionen sowohl spärlich als auch teuer war; die Bevölkerung vertraute daher so lange wie möglich auf überlieferte Mittel der Volksmedizin und rief einen Arzt oft erst, wenn es schon zu spät war. Es erschien nicht ungewöhnlich, dass rund 50 % aller Kinder nicht das Erwachsenenalter erreichten; es scheint eine gewisse fatalistischen Haltung vorgeherrscht zu haben: „Wenn Gott will, wird es dem Kind besser gehen, wenn nicht, wird es sterben.“  Oder „Wenn Gott nicht hilft, hilft auch keine Medizin.“[9]    

 

Exemplarische Auswertung lutherischer Kirchenbuchzweitschriften aus Wolhynien[10]

 

Kirchspiel 

Jahr

Taufen / Geburten 

Sterbefälle

davon Kinder

Rozyszcze

1863

149

47

32

 

1864

264

60

51

 

1866

238

94

72

 

1867

259

109

67

 

1868

281

134

91

 

1869

263

139

105

 

1870

279

125

81

 

1872

908

252

178

 

1873

573

378

293

 

1874

544

435

325

 

1875

706

380

288

 

1876

828

417

311

 

1877

224

435

303

 

1878

1154

441

316

 

1879

899

517

373

 

1880

1465

746

548

 

1881

1858

961

803

 

1882

1819

1140

885

 

1883

1955

857

576

 

1885

2193

1384

1101

 

Heimthal

1870

293

91

66

 

1872

unvollständig

108

72

 

1875

610

148

104

 

1876

620

(unvollst.) 120

65

 

1877

367

142

88

 

1878

397

233

168

 

1879

663

215

154

 

1880

626

335

229

 

1881

526

504

408

 

1882

520

370

291

 

1883

790

441

312

 

1885

1397

426

297


[1] W. Braumüller „Oesterreichisches Jahrbuch für Paediatrik“  (1873);  >> (Dr. Jäsche) Bericht über den Zustand im Findelhaus Moskau  1870 – 1872;

vgl. auch   Dr. Karl Günzburg    „Die Kindersterblichkeit im Allgemeinen und in den Findelhäusern insbesondere, im Lichte der Darwin’schen Theorie betrachtet“ in: Journal für Kinderkrankheiten, Erlangen 1872, S. 161 – 180                                                                            

David Ransel „Abandoned Children of Imperial Russia: Village Fosterage“ in: Bulletin of the History of Medicine , WINTER, 1976, Vol. 50, No. 4. S. 501-510 >> 1767 starben nach einer Pockenepidemie im Moskauer Findelhaus 98% der Kinder

[3] Handbuch der Hygiene. Bearb. von Assmann. [et al] Hrsg. von Th. Weyl  (1896-1901), S. 549

[4] vgl. „Archiv für soziale Hygiene und Demographie“ v.10.1915: „Statistische Entwicklungen zur Säuglingssterblichkeit in Russland 1883 – 1907“:    „Infolge der dringend gewordenen Notwendigkeit, irgendwelche, wenn auch nur annähernde Nachrichten über die Sterblichkeit der ländlichen Bevölkerung an akuten Infektionskrankheiten zu besitzen, wurde im Jahre 1890 die Verfügung erlassen, daß die Geistlichkeit sämtlicher Konfessionen im europäischen Rußland, in Polen und einigen Gouvernements auf dem Kaukasus allmonatlich aus den Kirchenbüchern eine Auslese der an akuten Infektionskrankheiten Gestorbenen machen und diese Listen den Gouvernements-Medizinalverwaltungen einreichen solle. In die Zahl derjenigen Krankheiten, die gewählt werden sollten, waren aufgenommen: Pocken, Masern, Scharlach, Keuchhusten, Diphtherie, Dysenterie, Abdominaltyphus, Flecktyphus, Rückfallfieber, unbestimmtes typhöses Fieber, Milzbrand und Tollwut.“

[5] vgl. hierzu auch Patrick P. Dunn „Der Feind ist das Kind“: Kindheit im zaristischen Rußland“ in: Lloyd de Mause (Hrsg.) „Hört ihr die Kinder weinen? - Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“, Frankfurt 1977, S. 535-564: Auszug online: https://www.detopia.de/M/Mause-de/1974-Kindheit/s535-09-Russland.htm .    -  Günzburg (vgl. Fußnote 7) stellte einen Zusammenhang her zwischen der Kindersterblichkeit und der Bodenqualität in einzelnen Gouvernements; z.B. rechnete der das „Gouvernement Shitomir“ zu den fruchtbaren Gouvernements, wo von 100 im Jahr 1831 geborenen Kindern (nur) 40% vor Ablauf des 5. Lebensjahres verstarben.   

[6]  David L. Ransel „Mothers of Misery. Child Abandonment in Russia“, Princeton University Press 1988

[7] vgl.Archiv für soziale Hygiene und Demographie“. v.10.1915

Statistische Entwicklungen zur Säuglingssterblichkeit in Russland 1883 – 1907; Tabelle für 1896-1897: 

https://archive.org/details/archivfursozialehygieneunddemographie.v.10.1915/page/n57/mode/2up?q=S%C3%A4uglingssterblichkeit

Daten für 1900 – 1904: https://archive.org/details/archivfursozialehygieneunddemographie.v.10.1915/page/n63/mode/2up?q=S%C3%A4uglingssterblichkeit 

[8] vgl. Dunn (Fußnote 4) S. 542f

[9] Ransel 1988, S. 271 f

[10] Irrtum vorbehalten; die betrachteten Jahrgänge bis 1885 sind nur lückenhaft vorhanden (das gilt insbesondere für das Kirchspiel Shitomir, das hier nicht ausgewertet ist), inhaltlich z.T.  fragmentarisch und insofern auch substanziell unvollständig. 




Illustrationen:

Gemälde von Karl Lemokh (1841 - 1910)    - gemeinfrei - wikimedia commons

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Лемох_К.В._-_У_люльки_(Больное_дитя)_-_1875.jpg 

https://ru.wikipedia.org/wiki/Лемох,_Кирилл_Викентьевич#/media/Файл:Lemoch_Carl_017.JPG

https://en.wikipedia.org/wiki/File:Lemoch_Carl_007.jpg 



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letzte Änderung 04.08.2021